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Archiv-Artikel

„Die DDR ist vielen so fern wie der Mond“

Nach der Novelle des Stasiunterlagengesetzes fordert der sächsische Landesbeauftragte für die Unterlagen, Michael Beleites, den Blick nicht nur auf die Stasi zu richten und sich mehr mit dem Alltag der DDR zu beschäftigen

taz: Herr Beleites, sind Sie froh über den Schlussstrich unter der Stasi-Regelanfrage?

Michael Beleites: Über die Schlussstrichdebatte sind wir doch hinaus, oder? Ich bin zufrieden mit dem Kompromissgesetz, auch damit, dass für herausgehobene Personen eine Möglichkeit zur Überprüfung bleibt. Es ist aber richtig, dass die Regelanfrage nach 15 Jahren ausläuft. Denn der rechtstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben.

Es geht doch hier nicht um Hinweise aus dem Handbuch für Juristen. Die Frage ist, ob ein Ex-MfS-Mitarbeiter heute Bürgermeister werden darf.

Genau. Und darum ist die Regelanfrage falsch. Nach der Wende wollten die Bürgerrechtler verhindern, dass jene, die unsichtbar für das DDR-Regime arbeiteten, wieder in verantwortliche Positionen kommen. Wir gingen davon aus, dass jene, die sichtbar für den Staat gearbeitet haben, ohnehin nicht in solche Positionen kämen. Aber es kam paradoxerweise genau anders herum.

Inwiefern?

Heute müssen sich die Kader der SED keine Gedanken um ihren Job machen, sondern allein die Zuträger des MfS. Das Herausdrängen von unbequemen Menschen aus der beruflichen Laufbahn wurde jedoch zumeist im Stasi-Auftrag von Schuldirektoren, Parteisekretären oder anderen Funktionären vorgenommen. Diese Leute gingen aber als politisch unbelastet aus den Überprüfungen hervor.

Das spricht eher dafür, die Aufklärungsarbeit in diesen Bereichen zu verstärken, oder?

Ja, genau. Das neue Gesetz stärkt auch Forscher und Medien, falls Sie das vergessen haben. Infolge der Regelanfrage wurde die DDR-Aufarbeitung mit der Enttarnung von Stasi-Spitzeln gleichgesetzt. Da entstand in der Öffentlichkeit das Bild, ohne Stasi sei die DDR eigentlich ein Rechtsstaat gewesen. Man muss sich fragen, ob der Sonderstatus der Birthler-Behörde dazu beiträgt.

Aber ohne Stasi ist die DDR auch nicht zu verstehen. Und dafür braucht es eine Behörde mit Sondervollmacht.

Für eine begrenzte Zeit schon. Aber in den nächsten fünf Jahren sollte der Status der Behörde diskutiert werden. Es ist ja nicht so, dass die Akten weggeschlossen würden, wenn man sie an normale Archive abgäbe. Für Forscher wären sie dort genauso gut zugänglich oder sogar besser.

Und wohin sollen die Akten?

Die Akten der Stasi-Zentrale sollten in das Bundesarchiv überführt werden und jene der MfS-Bezirksverwaltungen in die jeweiligen Landesarchive.

Wie soll ein Forschen über Zusammenhänge möglich sein, wenn ein Teil der Akten in Brandenburg steht und der andere in Sachsen?

Die relevanteren Zusammenhänge sind nicht nur die innerhalb der Stasi, sondern die zwischen der SED und den Staatsorganen einer Region. Wenn man diese erforschen will, müssen die Stasi-Akten dorthin gebracht werden, wo die staatlichen DDR-Akten und die der SED archiviert sind. Bisher steht die Stasi oft als isolierter Block in der Forschungslandschaft.

Ein paar Stasi-Akten in Dresden würden auch Ihren Posten aufwerten, oder?

Völliger Unsinn. Ich will, dass die Stasi-Akten in die staatlichen Archive kommen. Die stehen meiner Einrichtung nicht näher als die Birthler-Behörde. Mein Interesse ist weder persönlich noch ein Eigeninteresse meiner Behörde. Ich will nur, dass die unselige Fixierung auf das MfS endet.

Glauben Sie, dass sich dann noch jemand für die DDR interessiert? Das einzige Thema, das engagiert und emotional diskutiert wurde, war die Stasi.

Aber genau das hat doch zu einem extremen Überdruss am Thema DDR geführt. Die Menschen, die in der DDR groß geworden sind, erkennen sich in der derzeitigen Aufarbeitung kaum wieder. Sie ist zu weit weg vom Alltag. Wenn wir das Funktionieren der geschlossenen DDR-Gesellschaft veranschaulichen wollen, kann das nicht allein aus der Sicht der wenigen mutigen Oppositionellen geschehen.

Und deshalb haben Kinder in Ostdeutschland heute oft ein positives Bild von der DDR. Ist das nicht etwas weit hergeholt?

Nein, denn die Eltern geben ihren Überdruss an ihre Kinder weiter, Lehrer übrigens auch. Sie erzählen aus ihrem Leben, das oberflächlich betrachtet oft weitgehend normal verlief. Die politische Bildung müsste zeigen, wie sehr diese angebliche Normalität von Unterdrückungsmechanismen bestimmt war.

Zum Beispiel?

Man könnte deutlich machen, warum 99 Prozent der Menschen in der DDR alles getan haben, um dem Nachbarn nicht zu verraten, dass sie nicht zur Wahl gegangen sind. Nur wenn es gelingt, die Diktatur im Alltag der Menschen sichtbar zu machen, werden sie sich auch wieder für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit interessieren. Sonst bleibt insbesondere den Schülern von heute das Thema weiter so fern wie der Mond. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ