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Archiv-Artikel

Stabilität des Uneindeutigen

Rückkehr der Klassengesellschaft (5): Die soziale Frage nach Wohlstand und Sicherheit wird aus der Mitte der Gesellschaft gestellt, die Antwort muss von den Rändern kommen

Brüche in den Erwerbsbiografien dürfen kein soziales Verarmungsrisiko erster Ordnung bleiben

Die herbstliche Debatte zur Frage „Wie sprechen wir über soziale Ungleichheit?“ zeigt eine von Zukunftsängsten zerfurchte deutsche Mittelklassegesellschaft. Auf der einen Seite bangt sie um die Kontrolle des wachsenden sozialen Niemandslands der Armut, Arbeitslosigkeit und der Gelegenheitsjobs. Zur gleichen Zeit bemerkt sie, dass die Zeit der klaren sozialen Trennungen zwischen denen, die dazugehören, und denen, die leider draußen bleiben müssen, vorbei zu sein scheint.

Die Eckpfeiler der Mittelklassenwelt – Familie, Bildung und Erwerbsarbeit – haben an Tragfähigkeit verloren. Wenn Grübeleien übers Kinderkriegen den Familiensinn in Frage stellen, wenn Pisastudien und hysterische Elitedebatten die Bildungshoffnungen zermürben und wenn solide betriebliche Mittelstandsmotoren wie Siemens, Allianz oder Deutsche Bank ins Stottern kommen – dann geraten Status und Wohlstand derer in Gefahr, die sich noch vor kurzem auf der sicheren Seite des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts wähnten.

Bleiben wir beim guten Beispiel der Arbeitswelt. Nach wie vor ist sie der zentrale Ort sozialer Integration, materieller Lebensführung, symbolischer Anerkennung und personaler Identitätsstiftung. Prekäre Arbeitsformen gewinnen Raum, sozialpartnerschaftlich und wohlfahrtsstaatlich gesicherte Zonen des Arbeitens schrumpfen. Die Leiharbeit durchsickert industrielle Stammbelegschaften. Die 1-Euro-Jobber machen sich in öffentlichen Diensten breit. Und die Befristung von Arbeitsverträgen empört niemanden mehr. So erscheint es nur folgerichtig, dass am „Tag der Arbeit“ nicht die selbstbewusste Arbeitnehmerschaft, sondern das „Prekariat“ der Praktikanten und Aushilfskräfte auf die Straße geht.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass prekäre, brüchige, instabile Formen der Beteiligung am Erwerbsleben nicht mehr nur bedauerliche Randerscheinungen des Arbeitslebens sind. Die Prekarität der Arbeit darf nicht länger ausschließlich als irreguläre Abweichung betrachtet werden. Wir haben uns aus guten politischen Gründen daran gewöhnt, die tariflich organisierte und arbeitsrechtlich justierte Normarbeit der Automobilindustrie oder der öffentlichen Dienste als Orientierungspunkte für die Gestaltung des sozialen und betrieblichen Wandels zu wählen.

Veränderungen in der Arbeitswelt beobachten wir organisationspolitisch nach wie vor aus der Perspektive von IG Metall und Ver.di (Abteilung öffentlicher Dienst). Doch faktisch beobachten wir, dass eher die Organisations- und Arbeitswelt der Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten auf dem arbeitspolitischen und -rechtlichen Vormarsch ist. Deren Branchen stehen exemplarisch für eine lange Tradition prekärer Beschäftigung, die freilich niemanden recht interessierte, solange sie gewissermaßen vor den Toren der stabilen Zentren der Arbeitswelt lagerte.

Die Sorgen von Grenzgängern der Arbeitswelt, die sich von einem befristeten Arbeitsvertrag zum nächsten hangeln, die als Aushilfskräfte tätig oder auf Saisonarbeit angewiesen sind, ist in bestimmten Branchen alles andere als neu. Neu ist, dass rechtliche Entsicherung, finanzielle Abstriche und erwerbsbiografische Unregelmäßigkeiten an Orten auftreten, aus denen sie wohlfahrtsstaatlich verbannt schienen. Die prekäre Hinterbühne der Arbeitswelt wird auch für diejenigen mehr und mehr sichtbar, die für sich einen festen Anspruch auf einen tarifrechtlich geschützten Platz auf deren Vorderbühne beanspruchen.

Doch was bedeutet diese Diffusion des Prekären? Auf der einen Seite verschlechtert sich insgesamt die soziale und materielle Position der Arbeiterschaft. Die real existierende Armut insbesondere in Arbeiterhaushalten ist nicht mehr zu leugnen. Auf der anderen Seite verschwimmen klare rechtliche und betriebliche Grenzen zwischen stabiler und brüchiger Beschäftigung. Soziale und berufliche Unsicherheiten oder Gefährdungen reichen weit hinein in wohl etablierte und hoch qualifizierte Zonen der Arbeitsgesellschaft.

Die allseits beobachteten und kommentierten Abstiegsängste in den mittleren Lagen der Gesellschaft beruhen nicht nur auf abstrakten Befürchtungen, sondern auf realen Erfahrungen. Eine Innen-Außen-Betrachtung des Sozialen, die Gewinner klar von Verlierern zu unterscheiden vermag, funktioniert nicht mehr unter der veränderten Wirklichkeit eines sich neu formierenden Wohlfahrtsstaates. Vieles deutet hingegen auf eine neue Stabilität des Uneindeutigen hin. Die ökonomisch forcierte und politisch geförderte Übergangszone wächst. Und in ihr gibt es zahlreiche Konflikte – um neue Klassifikationen sozialer Risiken und um die Neuverteilung von Ansprüchen und Anforderungen.

Die Prekarität der Arbeit darf nicht länger als irreguläre Abweichung betrachtet werden

Auf das Wachstum dieser Zone der Uneindeutigkeit reagieren Wissenschaft und Politik durch Konzepte, die neue Sicherheit in der Prekarität suchen. Die zentralen Stichworte dieses politischen Suchprozesses lauten „Flexicurity“ und „Übergangsarbeitsmärkte“. Diese Diskussion signalisiert, dass die soziale Frage nach Wohlstand und Sicherheit zwar aus der Mitte der Gesellschaft gestellt wird, die Lösungen dieser Frage aber von den Rändern her erfolgen muss.

Der Zusammenhalt der Arbeitsgesellschaft kann und darf nicht mehr durch die Festigung des Zentrums gegen und auf Kosten der Randlagen erfolgen. Das selektive Erfolgsprinzip des sozialpartnerschaftlich organisierten Wohlfahrtskapitalismus, das die Vielen in der Mitte auf Kosten der Wenigen am Rande privilegiert, ist ein Auslaufmodell. Die künftige Gestaltung der Arbeitswelt muss von den prekären Rändern her erfolgen. Hier müssen die beschäftigungspolitischen und arbeitsrechtlichen Ansatzpunkte entwickelt werden, die verhindern, dass Brüche in den Erwerbsbiografien, unstete Berufsverläufe und die Bereitschaft, riskante und prekäre Beschäftigung anzunehmen, ein soziales Abstiegs- und Verarmungsrisiko erster Ordnung bleiben.

Die ressentimentgeladenen Wortklaubereien zur Unterschicht taugen nicht zur Neugestaltung von Arbeitswelt und Wohlfahrtsstaat. Es braucht vielmehr ernsthafte politische Debatten. Dabei müssen wir erstens die Arbeits- und Lebenswirklichkeit von prekär Beschäftigten in Logistikzentren, Handelsketten oder im Pflegebereich zur Kenntnis nehmen. Zweitens gilt es, die stabile Prekarität dieser Branchen in Beziehung zur neuen Prekarität in Industrie, öffentlichem Sektor oder der Bankwirtschaft zu setzen. Und drittens sollten wir bewegliche sozial- und arbeitsrechtliche Kompromisse zugunsten derjenigen finden, die sich auf flexible und mobile Beschäftigungsformen einlassen müssen. Es geht also in diesen Herbsttagen der mittelklassedominierten Arbeitnehmergesellschaft nicht um Sprachregeln, sondern darum, auf die Prekarität politisch zu reagieren. BERTHOLD VOGEL