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Archiv-Artikel

Jeder ist seine eigene Minderheit

BRIEFE Unser Aushilfshausmeister blickt auf das Jahr 2010 zurück. Er bekam wieder jede Menge Post von Menschen, die sich unbedingt Gehör verschaffen wollen und denen dies selten gelingt – den Querulanten. Geschichten aus der Ablage Q – über Thilo Sarrazin, die DDR und jede Menge Papier

Eine Borderline-Brandenburgerin fühlt sich von allen Einrichtungen verlassen, eine andere verfolgt

VON HELMUT HOEGE

„Übrigens ist der Schurke auch ein Querulant.“

         Jacques Derrida

In der taz ist umgekehrt der Querulant ein Schurke – denn immer wieder kommt so jemand einfach vorbei und nervt – ohne dass klar wird, worum es ihm oder ihr eigentlich geht. Die Querulanten sind jedoch hartnäckig, auch als Briefeschreiber. Einer Russlanddeutschenfamilie hat die Deutsche Bank Kredite in Höhe von 350.000 Euro angedreht, und sie weiß jetzt nicht mehr ein noch aus. Ein Heroinabhängiger, der im Knast zum Islam übergetreten ist, wird vom lettischen Anstaltsarzt zum christlichen Glauben zurücktherapiert – und ist darob völlig verzweifelt. Ein Lyrikerin beschwert sich, dass die taz von ihren Gedichten, die alle zehn Seiten lang sind, noch kein Einziges abgedruckt hat. Eine Borderline-Brandenburgerin aus Teltow fühlt sich von allen Sozialeinrichtungen verlassen, eine andere aus Potsdam geradezu verfolgt.

Obwohl es einen publizistischen Trend zur Personalisierung von Sozialproblemen gibt, werden auch die Querulantenbriefe in der taz, ungefähr drei in der Woche, nicht gerne bearbeitet. Sie landen meist in als „Ablage Q“ bezeichneten Behältnissen – und bleiben dort liegen. Einfach wegwerfen geht nicht. Immerhin hält die taz seit Beginn stets einen Schreibtisch im Konferenzraum für Querulanten frei, um den man sich dann abwechselnd kümmert und ihnen sogar beim Wahlkampf hilft, wenn sie denn mit einer eigenen Partei antreten. Außerdem unterstützt sie nach wie vor Inhaftierte.

Keine Zeitung verschmäht Informanten, aber bei den Querulanten, auch wenn sie noch so viele Schreiben von Behörden und Anwälten vorlegen, bedarf es eines gehörigen Aufwands, um daraus einen lesbaren Text zu machen. Manchmal liefern sie 50 und mehr Seiten ab – handgeschriebene Darstellungen ihres eskalierenden Unglücks ohne Anfang und Ende, gelegentlich auch nur wirre Grafiken oder schöne Zeichnungen.

Das Querulanten zu mehr Medienaufmerksamkeit verhelfende „Projekt Alltag“ von Richard Herding im Haus der Demokratie unterscheidet dabei zwischen Interessens- und Meinungsquerulanten, nur die Ersteren werden von ihm betreut. Das sind zum Beispiel solche, die wegen eines erlittenen Unrechts durch alle Instanzen prozessieren. Zu den Meinungsquerulanten zählen dagegen all jene, die à la Sarrazin auf Türken und Araber schimpfen – und sich als Deutsche oder Ickeberliner benachteiligt fühlen.

Inzwischen sind sie eine laute Mehrheit – und demgegenüber gilt: Nur Minderheiten sind produktiv, aber jeder ist eine Minderheit – vor allem die Querulanten, die sich fast immer selbst helfen müssen. So führte der arbeitslose Ostberliner Philosoph Lothar Feix einen anderthalbjährigen zähen Papierkrieg gegen diverse Behörden, um nicht zum Gärtner umgeschult zu werden.

Zur gleichen Zeit kämpfte in Heidelberg der arbeitslose Musiker Torsten Lech mit diversen Behörden, um eine Umschulung als Gärtner bewilligt zu bekommen. Beide konnten schließlich ihren Willen durchsetzen, aber dazu mussten sie erst hunderte Seiten mit peinlichsten Selbstauskünften, ärztlichen Gutachten, Widersprüchen, Bitten per Einschreiben und eigensinnigen Gesetzesinterpretationen abliefern.

Mit starrsinnigen Querulanten möchte man hierzulande noch immer nicht gern was zu tun haben. Während der Nazizeit kamen diese „Prozessierer“ sogar ins KZ. Noch in den Siebzigerjahren arbeiteten die Behörden in der Schweiz an einer Querulantenkartei – eine Art Entmündigungsraster der damals noch zukünftigen Dienstleistungsgesellschaft.

Wobei laut Richard Herding gerne tautologisch argumentiert wurde: „Er ist ein Querulant, weil er gegen alles ist, was die Behörden und Gerichte anordnen, zum Beispiel auch gegen die Beiordnung eines Pflegers; das bestätigt, dass er ein Querulant ist, was wiederum besagt, dass er einen Pfleger braucht und entmündigt werden muss“. Langsam gibt es jedoch ein Umdenken: So ermittelte eine Forschungsgruppe an der Bremer Universität, dass über 80 Prozent aller höchstrichterlichen Entscheidungen von Querulanten erwirkt werden. Im Justizalltag begreift man derartige Entscheidungen zumeist als Verbesserung einer unklaren bis überholten Rechtslage.

In einem Berliner Sozialamt gibt es schon einen Abteilungsleiter, der den gegen ihn Prozessierenden sogar aus eigener Tasche Briefpapier dafür kauft – heimlich, weil, so sagt er, „die Ämter doch die größten Querulanten sind – die prozessieren immer: Es kostet sie ja nichts.“

In den jüdischen Gemeinden der USA, zumal in New York, kennt man den Querulanten als „Kwetscher“: Jemand, der allzu hartnäckig seine Interessen vertritt. In England hat man über lange Zeit den „Exzentriker“ kultiviert, der „opponiert, wo er geht und steht“, wie Katharina Rutschky meinte, die einen Zusammenhang zwischen dessen Eigensinn und den vielen englischen Erfindungen beziehungsweise Patenten sah. In Russland hat man versucht, sie mit der Intelligenzija zu einem Revolutionär neuen Typs zu verschmelzen – im Kollektiv, hier gibt es ihn dagegen nur als Einzelkämpfer.

In der DDR, wo schon Unterschriftensammlungen verboten waren, scheint man ihnen mehr Sympathie als im Westen entgegengebracht zu haben, wenn sie sich mit ihren individuellen Eingaben – systemkonform – an den Staat wandten. Dort waren die Behörden gesetzlich verpflichtet, sie fristgemäß zu beantworten, wobei 25 Prozent positiv entschieden wurden – in der BRD sind es nur 5 Prozent.

Die taz porträtierte einmal so einen Einzelkämpfer: den Prozessbeobachter Oskar Walther. Er geht zu Gerichtsverhandlungen und kritisiert anschließend deren Wahrheitsfindung. Aber die Justizbehörden wollen einfach nicht auf ihn hören. Für das „Projekt Alltag“ wäre das ein typischer Fall von Meinungsquerulanz auf beiden Seiten.

Die Medien sind die kafkaesken Türwächter zur Öffentlichkeit. Sie waren es! Denn mit „Wikileaks“ und ähnlichen Internetplattformen haben sich die Querulanten nun ein Forum mit eigenem Zugang geschaffen. Sie heißen aber jetzt nicht mehr Querulanten, sondern „Whistleblower“ – Alarmschläger. Es geht dabei ursprünglich um das notfalls anonyme Aufdecken von Missständen, Fehlentwicklungen und Gefahren in privaten Firmen und staatlichen Organisationen.

Wikileaks ist ein Zeugenschutzprogramm für Whistleblower und gilt weltweit. Ihr australischer Gründer Julian Assange hegt romantisch-anarchistische Vorstellungen von Informationsfreiheit. Seine Seite sollte ursprünglich einmal alle erhaltenen Informationen vorbehaltlos und unzensiert veröffentlichen.

Der Internetverkäufer Amazon sperrte erst die Konten von Wikileaks und bietet nun Bücher über die Plattform an: eines heißt „Meine Zeit bei der gefährlichsten Website der Welt“. Und als zum Suchbegriff „Wikileaks“ passendes Buch wird unter anderem „Der kommende Aufstand“ empfohlen, was nicht ganz falsch ist, denn es geht der Autorenkommune, die sich „Unsichtbares Komitee“ nennt, um den Eigensinn.

Und der ist – in Zeiten, da man sich nicht mehr fragt „Was will ich tun?“, sondern „Was muss ich tun?“ – identisch mit Querulanz. Wer sich hier und heute dorthin zurückbewegt, riskiert Vereinsamung. Und in der taz? Kopfschütteln.

■ Ähnlichkeiten zu Helmut Hoeges Querulanten-Phänomenologie vom 23. 11. 2004 sind beabsichtigt. Wahrhaft weise Einsichten zu unterdrückten Themen müssen öfter wiederholt werden. Das zeichnet schließlich den wahrhaftigen Querulanten aus.