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Archiv-Artikel

Zwischen Indien und Ekstase

FOTOGRAFIE Die Galerie Nature Morte zeigt meistens zeitgenössische Kunst aus Indien. Zum zweijährigen Jubiläum gibt es allerdings provokant-schöne Fotoarbeiten der US-amerikanischen Künstlerin Diana Michener

Emotionen und ihr radikaler Ausdruck haben ebenso Platz wie die Zärtlichkeit einer verschwommenen Haarsträhne oder die Brutalität einer wüsten Penetration

VON JAN SCHEPER

Der Körper einer Frau hängt in der Luft – nackt, fragil, anonym. Das Gesicht ist eigenwillig verzerrt. Das Bild scheint zwischen Lust und Schmerz zu verharren. Die grauen Konturen der Aufnahme wirken wie ein dynamischer Höhepunkt vor einer ruhigen, weißen Wand, die in einen dunklen Dielenboden mündet. Und doch, der aus einem Pornofilm abfotografierten Szene fehlt jede Obszönität, jede vermeintlich formatgerechte mediale Härte. „Figure Sudies“ heißt die Einzelausstellung der US-amerikanischen Künstlerin Diana Michener, die die Galerie Nature Morte in der Zimmerstraße noch bis zum 8. Januar 2011 zeigt.

Ein überwiegender Teil der hier zu sehenden Schwarzweiß-Fotografien Micheners widmet sich Momenten sexueller Lust und dem damit verbundenen mimischen und gestischen Spiel der zumeist weiblichen Akteure. Ergänzt werden die schemenhaften Sexszenen durch die sogenannten „Fire Series“, einer Reihe von Bildern, die das Verbrennen von Holzhütten, Puppen und nicht näher bestimmbaren Gegenständen dokumentiert. Abgerundet wird die Ausstellung von dem lebensgroß modellierten Skulpturentrio „Saviour and Two Women“, das mittig in den Galerieräumen platziert ist.

Die Bildbereiche von „Figure Studies“ greifen die essenziellen Themenkomplexe auf, die die Kunst von Diana Michener, Jahrgang 1940, seit 30 Jahren dominieren: Intimität, Körperlichkeit, Identität. Sie widmete sich in diesem Zusammenhang auch äußerst sensiblen Fotostudien, unter anderem einer Reihe über missgebildete menschliche Föten. Seit Beginn der 1980er Jahre sind Micheners Fotografien vorwiegend in den USA – etwa bei der renommierten New Yorker Galerie Pace/MacGill – später weltweit ausgestellt worden.

2001 widmete ihr das Maison Européenne de la Photographie in Paris eine große Retrospektive mit dem Titel „Silence me“. Bereits 2005 kam es zu einer Kooperation mit Nature Morte in New Delhi: „3 Poems“ zeigte Fotografien von Michener und ihrem Mann, dem Pop-Art-Veteranen Jim Dine.

Wobei sich Nature Morte eigentlich auf zeitgenössische indische Kunst konzentriert. Gründer der Galerie ist der New Yorker Künstler und Kurator Peter Nagy, der, nachdem der Kunstmarkt in den Neunzigern kollabiert war, in Indien landete. 1997 eröffnete Nagy Nature Morte in New Delhi und zählt heute zu den etabliertesten Galeristen des Landes. 2003 kam es zum Zusammenschluss mit Bose Pacia in New York.

Peter Nagy verdankt seinen Erfolg dem stetig wachsenden internationalen Interesse an junger experimentierfreudiger Kunst aus New Delhi und Bombay. Shooting Star der Szene ist Subodh Gupta, der zurzeit auch bei Nature Morte New Delhi ausstellt. Sein blitzender Totenkopf aus Haushalts- und Küchenutensilien machte ihn weltberühmt. Die Skulptur posierte lange als Blickfänger vor der Sammlung Pinault im Palazzo Grassi in Venedig. Europäische Galerien und Museen finden Gefallen an einer Kunst, die Aspekte der Globalisierung mit traditioneller indischer Spiritualität und landesimmanenten Subkulturen formenreich zu verbinden weiß.

Infolgedessen gibt es seit zwei Jahren die Niederlassung von Nature Morte in Berlin. Die Galeriedirektorin Julia Prezewowsky sieht das steigende Interesse an indischer Kunst als Chance, gerade weil „Deutschland bei indischer Kunst etwas hinterherhinkt“. Dennoch ist sie auch um einen programmatischen Ausgleich bemüht. „Figure Studies“ von Diana Michener passe gut zum zweijährigen Jubiläum, sagt Prezewowsky.

Die Galerie verfügt über den Charme einer vom Tageslicht gut ausgeleuchteten geräumigen Altbauwohnung im dritten Stock im Galeriehaus auf der Zimmerstraße. Hier wirken die Bilder von Diana Michener bedächtig in den Raum hinein. Sie sind über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg entstanden. Der spezifisch schemenhafte Blick einer 70-jährigen Fotografin filtert das oberflächlich Pornografische ins figurativ Abstrakte hinein, ohne die körperliche Dynamik des sexuellen Aktes aus den Augen zu verlieren.

Emotionen und ihr bisweilen radikaler Ausdruck haben dabei ebenso Platz wie die Zärtlichkeit einer verschwommenen Haarsträhne oder die Brutalität einer wüsten Penetration. Im Gegensatz dazu wirken die „Fire Series“ fast sonderbar befriedend – ein in sich geschlossener „flammend“ harmonischer Gestus.