: Von Geigen, Kopfhörern und Netzen
Exquisite Auswahl aus der Vielfalt der Filmproduktionen: Im 3001-Kino beginnen morgen zum 18. Mal die Lateinamerika-Filmtage. Wieder im Programm ist, wofür das Festival bekannt wurde: viele Originalfassungen
Einfühlsam, mit langsamen Einstellungen gibt der Eröffnungsfilm den Blick frei auf ein Überleben auf dem Land irgendwo in einem fiktiven Dorf in Mexiko. In „Die Violine“ (El Violín), spielt der einarmige Geigenspieler Don Plutarco (Don Ángel Tavira) die Hauptrolle. Mit anderen Straßenmusikern zusammen unterstützt er die Guerilla durch Kurierdienste. Einem Armeehauptmann, der ihm zuerst die Geige wegnimmt, gefällt seine Musik. Das will Don Plutarco ausnutzen, um Waffen, die in seinem Maisfeld versteckt sind, zur Guerilla zu schmuggeln.
Es ist der erste, 2006 fertiggestellte Spielfilm des mexikanischen Regisseurs Francisco Vargas Quevedo. Vor knapp zwei Wochen erhielt er für „El Violín“ zurecht den höchsten Preis des Festivals des lateinamerikanischen Films im südspanischen Huelva, ebenso wie Martín Boege Paré, der für die beste Kameraführung ausgezeichnet wurde. Heute Abend gibt es die seltene Gelegenheit, den davor bereits mehrfach prämierten Film zu sehen. Die Fülle der sehenswerten Produktionen aus Lateinamerika ist so groß, dass es nur eine oder zwei Vorführungen pro Film bei den Filmtagen gibt.
Der zweite Film des Eröffnungsabends ist in mehrfacher Hinsicht ein Kontrast zu „El Violín“ mit seinen schwarz-weißen, ruhigen Bilder vom Landleben. Der chilenische Spielfilm „Play“ ist voller farbenfroher, ungewohnte Perspektiven einnehmender Kameraeinstellungen. Die junge Krankenpflegerin Cristina (Viviana Herrera) spielt „Streetfighter II“ am Bildschirm. Als sie sieht, wie eine Mutter ihre kleine Tochter schlägt, kämpft sie diese in ihrer Vorstellung wie im Computerspiel nieder, die Realbilder sind dem Spiel nachgestellt und mit dessen Geräuschen unterlegt.
Cristina lebt in Chiles Hauptstadt Santiago, kommt aber aus einer Mapuche-Familie aus dem Süden: Das Leben auf dem Land ist nur schön, wenn man dort auf Urlaub ist, sonst ist es trist und arm, erklärt sie einem Gärtner, der aus der Stadt wegmöchte. Sie liest dem alten Mann, den sie pflegt, Reportagen über Indigene aus Brasilien vor, die in den Texten exotisiert werden. Als sie die Umhängetasche eines jungen Architekten findet, geht sie zu dessen Wohnung, beobachtet ihn. Sie trägt seine Kopfhörer, hört seine Musik und folgt ihm und seiner Freundin, die sich von ihm gerade trennt, auf Schritt und Tritt. Der Architekt sieht Cristina nicht, sie ist unsichtbar für ihn und die anderen Bewohner des oberen Mittelklasse-Stadtteils, wo er lebt. Sie hat langes schwarzes Haar, dunklere Haut – eine Bedienstete, die man übersieht. Auch wenn sich ihre Wege kreuzen, sie leben in so verschiedenen sozialen Welten, dass es fraglich ist bis zuletzt, ob aus ihrem Interesse eine Freundschaft werden kann.
Die alltägliche Selbstverständlichkeit, mit der Cristina für ihn unsichtbar bleibt, die Sicherheit, mit der seine Ex-Freundin sich durch die Stadt bewegt und Cristina sich unsicher ist, veranschaulicht plastisch die Klassenverhältnisse im Chile des Jahres 2006. „Play“ war in den Kinos Chiles ein Erfolg und läuft im Januar weiter, im regulären Programm des 3001-Kinos.
Während der Lateinamerika-Filmtage gibt es außerdem wieder einige informative, bewegende Dokumentarfilme zu sehen. Am Sonntag ist mit sieben Kurzfilmen die argentinische Gruppe „Alavío“ zu Besuch, die seit 12 Jahren die audiovisuelle Demokratisierung vorantreibt und mit ihren Filmen Arbeitskämpfe und andere soziale Auseinandersetzungen unterstützt. Am 12.12. ist bei dem Film „Pakt des Schweigens – Das zweite Leben des Erich Priebke“ der taz-Autor Andreas Speit zu Gast, der darüber berichten wird, wie deutsche Nazis durch Untertauchen in Lateinamerika und Prozessverschleppung in der BRD straffrei geblieben sind. GASTON KIRSCHE/TAZ