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Archiv-Artikel

In den Beinprothesen perlt das Bier

So zart und rührend, so grotesk und grausam kann Kino sein: Mit „The Saddest Music in the World“ hat der kanadische Ausnahmeregisseur Guy Maddin einen Fiebertraum in körnigem Silber und Blaugrau gedreht, und er hat eine Zeitreise zurück zum Kino der 20er- und 30er-Jahre unternommen

von BIRGIT GLOMBITZA

Traurigkeit löst sich in Alkohol, genauso wie der Anstand. Und wenn die Bierbaronin Lady Port-Huntly (Isabella Rossellini) aus Winnipeg, Kanada, einen Song Contest um die traurigste Musik der Welt ausschreibt, denkt sie dabei nicht nur an musikalische Völkerverständigung, sondern auch an neue Absatzmärkte. Sie will in die USA expandieren, denn dort dürsten die Menschen während der Prohibition nach nichts so sehr wie nach dem Gerstensaft des trinkfreudigen Nachbarn im Norden. Depressionen beleben das Geschäft.

Außer der Gier ist der traurigen Lady mit dem umwerfenden Jean-Harlow-Blick nicht viel geblieben. Für die Liebe ihres Lebens, den Broadway-Produzenten Chester Kent, der beim Wettbewerb nun ausgerechnet für Amerika antritt, war sie nur ein Zeitvertreib. Für das launische Schicksal ein willkommener Sandsack. Bei einem absurd grausamen Unfall verliert sie beide Beine. Chesters Vater will sie aus einem Autowrack retten. Doch so liebestoll und besoffen, wie er ist, erkennt er nicht mehr klar die Konturen der Lady und sägt ihr mit den Worten „Oh, ein Puzzle!“ erst das unverletzte, dann das verletzte Bein ab. Nur die Weltwirtschaftskrise meint es gut mit der inzwischen reich Gewordenen. Ein Diener pflegt nun ihre Stümpfe oder führt auf Befehl ihr Rollbrett zum Tanz.

Isabella Rossellini spielt die verbitterte Mogulin mit dem ganzen prächtigen Pathos zu kurz gekommener Leinwandgöttinnen. Um die Ironie kümmern sich, wie so oft bei dem kanadischen Filmkünstler Guy Maddin, die idiosynkratischen Ausmalungen und die herrlich verspielten Requisiten. Die verrutschte platinblonde Perücke zum Beispiel, die Lady Port-Huntly wie einen abgestürzten Heiligenschein trägt, oder ihre gläsernen Beinprothesen, randvoll gefüllt mit perlendem Bier.

Die künstlichen, geschlossenen Welten des Kinozeitreisenden Maddin werden mit „The Saddest Music“ um eine liebevolle Hommage an die Leinwandextravaganzen der Depressionsära erweitert. Ein Studiouniversum, bevölkert von unheilbaren Ignoranten, Schwersttraumatisierten und Familienkriegsversehrten. Gedreht auf Super 8, in körnigem Silber und Blaugrau, mit gelegentlichen Einfärbungen und einer vergleichsweise quietschbunten Beerdigungsszene. Tod, Schmerz und Verlust sind natürlich das Größte in dieser nicht nur parodistischen Auseinandersetzung mit den frühen Weepies der 30er-Jahre, mit ihren lustvoll hysterischen Arrangements und ihrem virtuosen Weltschmerz, der beim aberwitzigen Musik-Wettbewerb auf die Spitze getrieben wird. Kreuzunglückliche Mariachis klampfen gegen die schluchzende Querflöte aus Siam an. Verzweifelte Dudelsackbläser aus Schottland und suizidgefährdete Trommler aus Afrika rackern sich ab, um den Rundensieg zu erzielen, der mit einer Rutschpartie in ein Bierbassin besiegelt wird. Kommentiert wird das folkloristische Spektakel, in dem die Nationen ihre kulturellen Minderwertigkeitskomplexe zu Markte tragen, von den politisch unkorrekten Plaudereien eines Moderatorenduos.

In schöner Reminiszenz an das aufgekratzte Gewinnlertum und den grundlosen Optimismus diverser Bob-Hope-Figuren schlawinert sich Marc McKinney als pomadiger Chester Kent durch den Film. Seine Interpretin Narcissa (Maria de Medeiros) übernimmt in dem Moll-Contest den Fado des reinen Herzens. Könnte sich die Arme noch an ihren Mann, ihren kleinen Sohn und den wahren Grund ihrer Trauer erinnern, würde wohl kein Kinovorhang der Welt als Schnäuztuch reichen. So aber schaut sie in die Ferne und hält sich mit den Aureolen des Weichzeichners Wahrheit und Welt vom Leib.

So zart und rührend, so grotesk und grausam kann das Kino sein. Zumindest wenn es sich in den Fieberträumen des Guy Maddin an seine Kinderstube beziehungsweise – wir sind schließlich bereits in den 20er- und 30er-Jahren – an seine Pubertät erinnert.

„The Saddest Music in the World“. Regie: Guy Maddin. Mit Isabella Rossellini, Maria de Medeiros u. a., Kanada 2003, 96 Min.