: Die Banden von Boston
Testosteron und Paranoia: Martin Scorseses neuer Film „Departed – Unter Feinden“ adaptiert den Hong-Kong-Actionthriller „Infernal Affairs“. Das Ergebnis ist ein faszinierendes Vexierspiel um einen Undercover-Cop und einen Undercover-Mafioso
von STEFAN GRISSEMANN
Provokation ist Teil des Spiels. Wer sich aus der Reserve locken lässt, hat schon verloren. Ob er wirklich ein Cop sein oder eher nur einen darstellen wolle, wird ein junger Abgänger der Polizeiakademie von seinem Vorgesetzten gefragt; das sei übrigens keine hinterhältige Frage, denn viele Polizisten wollten tatsächlich nichts als das: einen Cop spielen, genau wie im Kino. Wenig später tritt der Mann, dargestellt von Leonardo DiCaprio, seine Schauspielerkarriere an: als eingeschmuggelter good bad guy in der Unterwelt, deren Schergen selbst gerade einen der ihren bei der Polizei untergebracht haben. Mit schwindelerregenden Schein- und Vexierbildern hat Martin Scorsese seinen neuen Film ausgestattet und kunstvoll die Vorspiegelung falscher Tatsachen dramatisiert, mit Schauspielern, die allesamt Schauspieler spielen in dieser gezielt eskalierenden Tragikomödie der mörderischen Gaukelei.
Scorsese sei zurück in den mean streets, haben Kritiker unlängst geschrieben, auch wenn diese Straßen nun nicht mehr in New York, sondern in South Boston liegen; zurück in den inneren Kreisen der good fellas, der harten Jungs vom organisierten Verbrechen, im gegebenen Fall konkret: der irischen Mafia der Stadt. Man könnte tatsächlich meinen, Martin Scorsese betrete in „Departed – Unter Feinden“ sein traditionelles Terrain, wiederhole bloß das alte, erfolgsträchtige Rezept.
Ein genauerer Blick auf Scorseses neuen Film lässt aber durchaus andere Schlüsse zu: In seinem Remake jenes bahnbrechenden Triaden-Krimis, der in Hongkong im Herbst 2002 in die Kinos kam und wenig später unter dem internationalen Verleihtitel „Infernal Affairs“ (im Original: „Mou gaan dou“) weltweit Furore machte, findet der Filmemacher zu überraschend effizienten Kernfusionen von Personalstil und Zitat. Klug bewahrt Scorsese die wichtigsten Vorgaben des Originals, findet aber in der Feinzeichnung, der kreativen Fortschreibung bestimmter Szenen zur eigenen inszenatorischen Signatur zurück. Das Ergebnis ist einigermaßen explosiv: ein Scorsese-Thriller und ein Hongkong-Actioner, in flirrender, hochkomplexer Doppelbelichtung.
Die Arbeiten des New Yorker Regisseurs Martin Scorsese sind persönlich gemeint, sogar und gerade dort, wo Persönliches undenkbar scheint. „Departed“ ist auf den ersten Blick alles andere als ein Autorenfilm: vielmehr ein Genre-Planspiel, eine Cop- und Gangster-Doppelgänger-Geschichte als komplexe interkulturelle Liaison west-östlicher Suspense-Techniken. Und doch ist auch „Departed“ nur mit Blick auf das Gesamtwerk von Scorsese wirklich zu verstehen. Nahezu jede Szene des Films verweist auch auf Scorseses eigene Zwangsvorstellungen: „Departed“ setzt erneut auf die Faszination einer ritualistischen kriminellen Subkultur, die der Regisseur als Kind in New Yorks Little Italy selbst erlebt und später als Vorlage für Gangsterfresken wie „Mean Streets“ (1973), „GoodFellas“ (1990) und „Casino“ (1995) benutzt hat.
Das aus „Infernal Affairs“ entliehene Storygerüst ist erstklassig konstruiert. Es bietet Raum für spiegelbildliche Arrangements aller Art: Ein einsamer junger Cop (DiCaprio) übernimmt die lebensgefährliche Aufgabe, als Undercoveragent die Winkelzüge der Mafia von innen her zu durchkreuzen; der mächtige Mobster Frank Costello (Jack Nicholson) lässt parallel dazu einen seiner hochbegabten Zöglinge (Matt Damon) bei der Polizei einschleusen. Die beiden jungen Männer, die einander, wie es das Genre will, natürlich viel ähnlicher sind, als ihnen lieb ist, werden in der Folge nicht nur von schweren psychischen Krisen heimgesucht, sondern auch unbekannterweise aufeinander angesetzt. Die gegenseitige Jagd, die von beiden über die perverse Vaterfigur Costello vollzogen wird, führt in einen Abgrund aus Misstrauen, Zufall, Paranoia.
Den irischen Mob hat Scorsese bereits 2002, einem Roman Herbert Asburys folgend, in „Gangs of New York“ porträtiert, dort freilich aus historischer Distanz und mit leider zwiespältigen Resultaten. „Departed“ dagegen gewinnt seine Unmittelbarkeit auch aus der Gegenwärtigkeit des Ambientes – und seiner spielfreudigen Besetzung: Jack Nicholson hält in seiner Performance trotz gelegentlicher heiterer Entgleisungen geschickt die Balance zwischen teuflischer Überhöhung und krimineller Vulgarität. Und auch der dauerjugendliche DiCaprio, dem sein Freund Martin Scorsese die – verglichen mit dem vor allem finster brütenden Matt Damon – deutlich dankbarere Rolle zugeschanzt hat, wirkt in „Departed“ weniger künstlich als zuletzt in „Aviator“ und „Gangs of New York“. Die All-Star-Besetzung des Films zieht aber weitere Kreise: Um das zentrale Trio agieren Martin Sheen (als good cop) und Mark Wahlberg (als Provokateur und bad cop), außerdem der lakonische Alec Baldwin sowie Ray Winstone in einer denkwürdigen Gangster-Inkarnation an Nicholsons Seite. Man mag aus dieser Liste schließen, dass „Departed“ alles andere als ein Frauenfilm ist (und liegt damit nicht ganz falsch): Vera Farmiga absolviert als Polizeipsychologin, die zum Liebesobjekt beider junger Männer avanciert, eine nicht gerade tiefgründige Rolle immerhin souverän. So ist das im Mafiathriller: Die Gattung fordert Testosteron.
Auch in dieser Hinsicht hält sich Scorsese eng an seine Vorlage. Schon das Regieduo Andrew Lau und Alan Mak hat in „Infernal Affairs“ variantenreich das Doppelgängermotiv des Films ausgespielt – und seine Stars Tony Leung (als Cop in der Triadenhölle) und Andy Lau (als Gangster mit Polizeikarriere) in einem tatsächlich infernalischen Spiegelkabinett gegeneinander antreten lassen. Die Mobiltelefonobsession, die „Departed“ prägt, ist bereits im Original angelegt, das in seiner Lust auf Hightech-Spielereien viel weiter als Scorseses Adaption geht – die gläserne, metallische Welt der „Infernal Affairs“ ist allerdings in erster Linie dem Schauplatz des Films, dem futuristischen Hongkong, geschuldet.
In Scorseses hochverdichtender Inszenierung wird jedes Ereignis in gewagten Parallelmontagen kurz gefasst, auf seine Essenz verknappt; darin passt Thelma Schoonmakers artistischer Schnitt auch zu den knochentrocken geführten Dialogen des Films. Um etwa einen Eindruck von Costellos nächtlichen Sex- und Drogenpartys zu vermitteln, brauchen Scorsese und Schoonmaker nur wenige Sekunden screen time: Sie zeigen nicht mehr als Nicholsons verschwenderischen Griff in die Kokainschale, eine wegwerfende Geste – und den abgelebten, betäubten, vergifteten Blick des Gangsters. Die schwelende Gewalt der Hierarchiekämpfe, die auf beiden Seiten, unter Verbrechern und Exekutivbeamten, geführt werden, koppelt Scorsese mit einer besonderen Form der akustischen Aggression: Sogar die Mobiltelefone, die in seinem Film unaufhörlich zum Einsatz kommen, werden mit dem Geräusch der Klinge eines Springmessers auf- und zugeklappt.
Auf eine gewisse Distanz zu den „Infernal Affairs“ legt Scorsese dennoch, bei allem Respekt vor der Vorlage, da und dort Wert. In einer kleinen Szene zwischendurch wird der schmale Grat zwischen Ähnlichkeit und Differenz noch einmal deutlich. In einem dunklen Kinosaal finden sich der Mafiaboss und die beiden jungen Antagonisten noch vor dem nihilistischen Finale des Films ein. Scorsese stellt bei dieser Gelegenheit einen vagen Rückbezug auf seinen Film „Taxi Driver“ her: Natürlich flimmert bei ihm, wie schon drei Jahrzehnte davor bei Robert De Niros erstem Date mit Cybill Shepherd, ein Porno über die Leinwand; im Original läuft an dieser Stelle, ironisch korrekt, ein meditatives Filmwerk der buddhistischen Schule.
„Departed – Unter Feinden“. Regie: Martin Scorsese. Mit Leonardo DiCaprio, Jack Nicholson, Matt Damon u. a., USA 2006, 146 Min.