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Archiv-Artikel

Haste mal’ n Tütchen?

PANINI 216 gegen 406. Ui, ein Glitzi! Wer hat die Mannschaft von Südkorea? Pünktlich zur Fußball-WM soll das Stickeralbum voll sein. Kaufen, tauschen, tauschen, kaufen, dass es eine Freude ist

Klar, das ist Kommerz pur, aber auch: mit Leuten ins Gespräch kommen, alte Bekannte wiedertreffen, die Vorlieben anderer akzeptieren

VON MAIK SÖHLER

75 neue Sticker auf einen Streich, und das ohne einen einzigen doppelten Aufkleber. Die Kinder glauben es mir erst, als sie den Schatz vor sich sehen. Dieser Mittwochabend wird in die Geschichte eingehen. Dabei habe ich nur einen Freund getroffen, den ich ohnehin ständig treffe. Wir trinken ein paar Bier, sitzen am ersten Frühsommerabend draußen, quatschen ein bisschen. Aber erst, nachdem wir gegenseitig unsere Panini-WM-Alben inspiziert und reichlich getauscht haben.

Alle vier Jahre zur WM (und auch sonst zu vielen sportlichen Anlässen) bringt Panini ein neues Stickeralbum heraus. Und alle vier Jahre mache ich mit, der Kinder wegen, versteht sich. Diesmal braucht es 640 Sticker, um das Album vollzubekommen. Jedes der 32 WM-Teams ist mit 19 Stickern vertreten, einmal mit einem glitzernden Wappen („Ich hab einen Glitzi!“, sagen die Kinder), einmal mit einem Mannschaftsbild, ein Torwart und 16 Spieler. Dazu diverse Stadien und noch ein paar Glitzis zur Fifa und zu Brasilien.

Ein Tütchen mit fünf Stickern kostet 60 Cent. 4.505 Sticker, also 901 Tütchen müsste man im Durchschnitt kaufen, um 640 unterschiedliche Motive zu erhalten. So will es die Sammelbildformel, die mehrfache Sticker berücksichtigt und deren Anblick auf Wikipedia nur Mathematiker mit abgeschlossenem Studium erfreut. Kosten würde der Spaß demnach 540 Euro und 60 Cent. Und das auch nur, wenn die Sticker tatsächlich gleichmäßig auf die Tütchen verteilt wären. Panini behauptet, es sei so. Zahlreiche Mitglieder in Tauschbörsen und auch diverse Medien zweifeln das an.

Egal. Die Realität sieht ohnehin anders aus. Man kauft am Anfang viele Tütchen, bis das Album an Fülle gewinnt. Dann kommt eine Phase, in der ungefähr gleichviel zugekauft wie getauscht wird. Dann überwiegt das Tauschen und nur noch gelegentlich wird zugekauft. Und die letzten fehlenden 50, 43 oder 37 Sticker werden direkt bei Panini bestellt. Mehr als 50 dürfen beim Verlag nicht angefordert werden.

Bis dahin ist es ein weiter Weg, und jeder – Kinder wie Erwachsene – muss ihn mitgehen. Das bedeutet: Kaufen, tauschen, tauschen, kaufen. Das ist Kommerz pur, klar, aber auch: Mit Leuten ins Gespräch kommen, mit denen man sonst nichts zu tun hat. Alte Bekannte wiedertreffen. Die Vorlieben anderer akzeptieren. Wenn die Kinder das Album und die Doppelten mit in die Schule oder in den Hof nehmen, tauschen sie anders als Erwachsene (Glitzis! Nur die Spieler, die sie aus der Bundesliga und Champions League kennen. Ein Wunder, dass wir immer noch nicht alle deutschen Nationalspieler haben.)

Es braucht außerdem exakte Absprachen, wer das Album und die doppelten Sticker wann in die Schule, ins Büro oder zu Freunden mitnehmen darf. Was getauscht wird, muss notiert werden; auch die weggegeben Doppelten. Nur so lässt sich der Datenbestand auf Stickermanager.com ohne Dauerflucherei und mit geringem Zeitaufwand aktuell halten.

Stickermanager.com ist die Online-Tauschbörse für Sticker. Hier wird alles getauscht, was sich in Sammelalben einkleben lässt. Zuletzt waren es 509 verschiedene Sammelalben, die von Laien und Maniacs, von Neu-Junkies und Altabhängigen gefüllt werden wollen. Darunter häufig nachgefragte Alben wie jene zur WM, zur aktuellen Fußball-Bundesliga-Saison oder zur Star-Wars-Saga. Es finden sich dort aber auch Kollektionen wie „Bielefeld sammelt Bielefeld“, „Unser Sachsen“ oder „Hello Kitty Superstar“. Selbst Uraltalben wie das zum „FIFA World Cup 1970 Mexiko“ treffen noch auf Interessierte. Außer Panini sind hier auch alle anderen Sammelalbum- und Stickeranbieter vertreten.

Wir haben den Stickermanager im Jahr 2006 entdeckt, die Kinder waren noch zu klein, um selbst mit Freunden zu tauschen. Über das Online-Portal habe ich damals kurz vor der WM wildfremde Menschen kennengelernt, sie an Berliner U-Bahn-Stationen oder in zentral gelegenen Parks getroffen. Erwachsene Menschen jeden Alters und aus jeder sozialen Schicht begrüßen sich voller Vorfreude und die Cooleren fragen im Scherz: „Haste mal’ n Tütchen?“ Dann wird kurz geplauscht und lange getauscht und jeder zieht wieder freudig ab. Schön ist auch der bei solchen Treffen häufig gehörte Satz: „Ich mach das ja nur der Kinder wegen.“

Mit einigen tauscht man per Brief und lernt dabei, wie unterschiedlich Sammler ticken. Der eine pflegt die Veränderungen schon beim Einkleben direkt ins eigene Stickermanager-Profil ein, damit sofort weitergetauscht werden kann, und drängt andere, das auch zu tun. Pedanten beschweren sich darüber, dass die Sticker ohne Schutzumschlag im Brief lagen und nun minimal „abgerieben“ sind. Profi-Sammler erkennt man an großer Gelassenheit und unfassbarer Detailkenntnis: „Ist dir aufgefallen, wie hochwertig heute die Qualität der Fotos bei Frankreich im Vergleich zu 2002 ist?“ Es gibt Sammler die mit Detailkenntnissen verblüffen wollen und doch nur Verschwörungstheorien verbreiten, und es gibt welche, die alles neu Erworbene sofort einkleben müssen und dabei ihr Gegenüber völlig vergessen. Es ist eine Welt, in der kleine Aufkleber jede Profilneurose, menschliche Macke und Verhaltensauffälligkeit exakt abbilden.

Bei uns haben mittlerweile die Kinder den überwiegenden Teil des Tauschgeschäfts übernommen. Das ist gut und schlecht zugleich. Schlecht, denn es wird sozialer Druck erzeugt; Sticker-Tauscher und Nicht-Sticker-Tauscher bilden auf dem Schulhof manchmal eigene Peer Groups. Gut, denn Kinder hebeln dabei oft die Fallen des Kommerzes aus. Da wird in ungleichen Mengen getauscht, einfach weil andere weniger haben, jünger sind, zum anderen Geschlecht gehören. Da werden auch mal die gratis in der Schule ausliegenden Alben mitgenommen, nur um die sechs eingelegten Sticker abzugreifen und das Album in den Müll zu werfen.

Seit acht Jahren kleben wir die gekauften oder getauschten Sticker nun gemeinsam ein. Diese Zeitspanne sieht man unseren Sammelalben auch an. 2006 pappten ein Einjähriger und eine Vierjährige mit schokoladenbeschmierten Händen mit, Ordnungsfetischisten sollten sich jenes Album besser nicht ansehen. Im Jahr 2010 waren schon mehr als die Hälfte aller Sticker halbwegs gerade angebracht, es wurde allerdings noch viel gemalt.

Diesmal haben wir andere Probleme. Wenn die Kinder tauschen, kleben sie die Sticker oft gleich ein. Nähme ich mir das heraus, wäre das Geschrei groß. Ich bin als Kaufesel gebucht, einkleben darf ich nur, wenn die gesamte Familie dabei ist und wenn ich mich exakt ans System halte. Das System sieht so aus: Jeder hat gleich viele Sticker, bei nicht durch vier teilbaren Zahlen wird zugunsten der Kinder aufgerundet. Außerdem haben Sohn und Tochter einen sogenannten Lieblingsspielerbonus. Das heißt, Spieler wie Neuer, Podolski, Reus, Messi, etc. müssen unabhängig von der Gesamtaufteilung der Sticker abgetreten werden. Aus anderen Familien, so hört man, gibt es ähnliche altersdiskriminierende Einklebsysteme.

Was soll’s. Sammeln, tauschen, einkleben – gemeinsam oder getrennt – macht Spaß. Die Fußball-WM rückt näher und wir überbrücken die Zeit bis dahin mit kleinen WM-Aufklebern. Wenn die WM dann endlich da ist, dann wird sie hoffentlich ein Glitzi!