: Wieso bin ich jetzt Journalist?
Mit „Tempo“, das heute wieder erscheint, ist es ein wenig wie mit der großen Zeit des Heftes, den Achtzigerjahren – wer sich noch entsinnen kann, der kann es nicht erlebt haben. Tom Kummer erinnert sich trotzdem daran, wie er einst auf diesem Flaggschiff des Lifestyle-Journalismus angeheuert wurde
VON TOM KUMMER
Ich bin viel zu früh dran. Und furchtbar nervös dazu. Trage ich die richtigen Kleider? Kann ich das wirklich durchstehen? Werden sie mich auslachen mit meinem Schweizer Akzent? Warum bin ich jetzt dermaßen unsicher?
Vor zwei Stunden stand ich noch vor einem riesigen wilhelminischen Wandspiegel in meiner Wohnung in Berlin in der Yorckstraße. „Temptation“ von New Order lief im Hintergrund, ich studierte meinen Look und fühlte mich stark. Jetzt ist nichts mehr davon da. Jetzt sitze ich auf einer Parkbank und kann mich nicht entscheiden, ob ich meinen Termin überhaupt wahrnehmen soll. Will ich wirklich für Tempo arbeiten?
Ich laufe fünf Minuten vor der Heinrich-Heine-Villa auf und ab, schaue in den Himmel und beobachte die Wolken und die Zugvögel. Und ich sehe, dass da noch was ganz anderes hinter den Vögeln und den Wolken am Himmel ist: ganz gewaltig, ganz dunkel, fast schmerzhaft. Für einen Moment versuche ich mir einzureden, dass ich es eigentlich schon weit gebracht habe. Ich sitze hier an einem See in Hamburg, und gleich wird sich einer um mich kümmern, dem offenbar irgendwas an mir liegt. An jenem Tag vor der Heinrich-Heine-Villa ist der Himmel geradezu krankhaft bevölkert von Zugvögeln, und was hinter den großen weißen Hamburger Wolken schwebt, ist noch viel, viel schlimmer, und niemand kann mir einreden, dass ich mir das bloß einbilde: Es ist kein blauer Himmel, vor dem die Wolken einfach so wunderschön kleben wie an jenen Orten, von denen wir alle vielleicht immer gerne träumen, sondern ich sehe dort eine weiße furchteinflößende Fläche, die jetzt einfach so über Deutschland schwebt, wie ein leeres unbeschriebenes Blatt Papier.
Wenn ich jetzt diese schlimmen Gedanken nicht sofort weiterziehen lasse, werde ich mit Verspätung eintreffen, und meine Chance ist vergeben. Doch ein diffuses Pflichtbewusstsein treibt mich vorwärts. Das Wunder der menschlichen Existenz verleiht einem nämlich unglaubliche Kräfte, rede ich mir ein. Ganz tief hinten im Unterbewusstsein sitzt irgendwo der Mut, einen Vorhang zur Seite zu schieben, eine Leinwand wird hochgezogen, man stößt eine Türe in eine fremde Welt auf oder betritt zitternd die große Bühne, und da werden plötzlich unermesslich aufgeblasene Kräfte im scheuen Wesen aktiviert. Sie machen alles vergessen.
Mein erster Gedanke beim Betreten der Redaktionsräume ist dieser: Habe ich mich im Eingang geirrt? Hier sieht alles wie in Copyland aus. Mit gesichtslosen Kopierläden kannte ich mich gut aus, das waren damals in Berlin besondere Treffpunkte. Man konnte aufregende Menschen kennenlernen, Leute, denen man sonst nie begegnen würde. Recherchen im Internet gab es noch nicht – alles musste mühsam aus Heften und Büchern herauskopiert werden, und so wurden bestimmt einige der ganz großen Ideen zum ersten Mal in einem Kopierladen gedacht.
Die Tempo-Redaktion erinnert mich jedenfalls an eine Mischung aus schmucklosem Kopierladen und studentischer Wohngemeinschaft, und ein wenig überrascht bin ich darüber schon, wenn man bedenkt, wie edel das Gebäude von außen aussieht und wie glamourös sich das Heft präsentiert.
Eine Traube von Leuten steht vor einem Kopiergerät, und alle Köpfe drehen sich kurz in meine Richtung, glotzen mich an, es sind wohl Redakteurinnen oder Sekretärinnen, und dann blicken sie auch gleich wieder mit cooler Herablassung weg. Ich laufe in die Mitte der Redaktionsräume, finde aber niemand, der sich um mich kümmert. Es gibt eine kleine Küche, einen Kühlschrank, eine Kaffeemaschine, ich sehe einen Raum, in dem gerade eine Sitzung stattfindet. Themenkonferenz nennt man das, werde ich bald lernen. Andere sitzen lässig mit ausgestreckten Beinen um einen Tisch, rauchen oder blättern in englischen Magazinen.
Niemand scheint mich zu bemerken. Vielleicht denken sie, ich sei ein Fahrradkurier. Ich betrachte die engen Arbeitszellen, die Schreibtischdekorationen und das allgemeine Chaos. Es gibt jede Menge Pinnwände, an denen ausgeschnittene Artikel hängen, Aufkleber an Schreibtischen und Schreibmaschinen, die auf aktuelle Musiktrends verweisen, Berge von Magazinen und Zeitungen. Ich entdecke ein Bild des jungen Daniel Cohn-Bendit, gleich neben Rudi Dutschke, ein Schwarzweißfoto eines peruanischen Minenarbeiters und Terence Trent d’Arby, ein altes Poster einer Ausgabe des Jugendmagazins Twen, oder, dort drüben, neben einem Jugendbild von Ulrike Meinhof, das Cover von Tom Wolfes „Unter Strom“.
Nach zehn Minuten fragt mich eine junge Frau, ob sie mir helfen könne. Etwa so, als ob ich mich in der Adresse geirrt hätte. Ich stelle mich vor und erwähne die Namen Herrgesell und Peichl. Irgendwann kommt ein Herr Herrgesell, dessen netter Brief mich überhaupt erst hierhergelockt hat, und dann schaue ich mir diesen Herrgesell an und versuche wirklich freundlich zu lächeln, aber irgendwie habe ich mir was ganz anderes vorgestellt. Aber gut, Journalisten sind eben korrekt gekleidete Menschen, schließlich ist das hier ein Büro, so sehen Leute aus, die in einem Büro arbeiten.
Ich werde in ein Zimmer geführt, in dem ein Fernseher und ein Videogerät stehen. Dort laufe ich einem Mann mit sehr sympathischem Gesicht entgegen, Markus Peichl. Er grinst und lässt einen sofort ein bisschen teilhaben an diesem Schelmischen, es baut sich schnell eine besondere Form der Intimität auf, bis man ganz rasch so viel Vertrauen und tiefe Solidarität verspürt, dass man bereit ist, alles zu tun, was der einem befiehlt. Das nennt man wohl einen guten Chefredakteur. Es ist weniger ein hartes Vorstellungsgespräch, mehr ein romantisches Rendezvous. Er fragt mich aus, was ich bisher so geschrieben habe, doch bevor das Treffen zu freundschaftlich wird, wechselt Peichl drastisch den Tonfall. Er will mich für eine Geschichte über einen anderen Schweizer einsetzen: Pirmin Zurbriggen, den damals weltbesten Skifahrer. Das ist zuerst enttäuschend. Natürlich habe ich mir etwas viel Glamouröseres vorgestellt als ausgerechnet unseren Pirmin zu besuchen. Immerhin werde ich vier Monate in der Redaktion in Hamburg sein und zwischen 1988 und 1992 als festangestellter Reporter arbeiten.
Kurz nach meiner Reportage über Pirmin Zurbriggen und das Phantom Michael Jackson (drei Wochen USA-Einsatz) begebe ich mich zu Recherchezwecken für eine Woche in den Keller der Heinrich-Heine-Villa. Dort soll ich die Wirkung von Isolationshaft auf RAF-Gefangene studieren – ein Riesenthema in der damaligen Bundesrepublik. Ich bin womöglich der einzige Journalist bei Tempo, der Peichls Idee eines inszenierten Selbstversuchs im Redaktionskeller nicht pervers komisch, sondern notwendig findet. (Obwohl ich dann doch noch einmal den Versuch unternehme, mit der Gefängnisdirektion in Stammheim zu sprechen, ob es vielleicht doch eine Möglichkeit gäbe, eine Woche als Testperson Isolationshaft zu simulieren. Keine Chance.) So wird mir also eine Pritsche und ein Tisch im Kellergeschoss eingerichtet. Es wird mir dreimal täglich eine warme Mahlzeit serviert. Sonst habe ich keinen Kontakt zur Außenwelt.
Ich glaube, dass mein Selbstversuch auch ein Test ist. Wie kann man höhere Loyalität zu einem Chef beweisen, als dass man für ihn sogar sieben Tage in Gefangenschaft geht? Mein Blick fällt vom schmalen Kellerfenster auf einen der Tempo-Parkplätze. Ich erinnere mich besonders gut an unseren Art-Direktor Lo Breier, der seinen feinen Schlitten genau über diesem Fenster geparkt hatte und sich sogar die Mühe macht, morgens, mittags und abends immer rasch einen Blick zum Isolationshäftling zu werfen und ihm aufmunternd zuzuwinken. Ich habe natürlich viel Zeit, über alles nachzudenken. Wieso bin ich jetzt Journalist? Was ist das überhaupt? Was sind die Medien: Zeitungen, Magazine, Fernsehen? Was soll das alles? […]
Später einmal, als ich selbst schon zu den Erfahrenen zähle, wird ein junger, blondhaariger Schnösel die Redaktion betreten. Er soll Volontär sein oder etwas in der Art und stellt sich als Christian vor, er sei Schweizer. Das kann man fast nicht glauben, denn der Blonde kann kein Schweizerdeutsch, was wirklich sehr lustig ist. Ein Schweizer, der keinen Dialekt spricht, davon habe ich noch nie gehört. Ich sage dem Blonden einfach, er solle mir mal beim Kopieren helfen, wenn er schon sonst nichts zu tun hat, ich habe mir gerade ein riesiges Arsenal von Fachliteratur für meinen nächsten großen Auftrag besorgt: Drogen in Deutschland – der ultimative Tempo-Test.
Und so kopiere ich mit dem Blonden alles, was man zu den Themen Kokain, Heroin, LSD so finden kann. Dem Blonden erzähle ich, was für eine grandiose Geschichte dies werden wird, eine Reise durch Deutschland, auf der Suche nach den besten und miesesten Drogen, die diese Republik zu bieten hat. Und wie das gleichzeitig ein Sittenbild werden soll über ein Land, das es in dieser Form bald nicht mehr geben wird. Der Blonde fragt, wer die Drogen eigentlich kauft und wer sie bezahlt.
Ich kann mich gut erinnern, als ich später an einem schönen Frühlingsmorgen ins Büro der Finanzabteilung des Jahreszeiten-Verlags marschiere und fünfzehntausend Mark in einem Umschlag abhole. Unten wartet Helge Timmerberg im BMW; er hatte sich kurzfristig in die Geschichte einschleusen lassen, wollte mir – dem jungen Mann in Kampfstiefeln – nicht einfach ein Thema überlassen, das für einen alleine viel zu gefährlich wäre.