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Archiv-Artikel

Alarmisten kennen kein Halten

Baden-Württembergs Kultusminister Rau löst mit einer Amokwarnung Panik an Schulen in ganz Deutschland aus

AUS BERLIN CHRISTIAN FÜLLER

Für Roman Herzog muss das ein Glückstag gewesen sein. Bildung solle ein Megathema in der Gesellschaft sein, forderte der Ex-Bundespräsident einst vielbeachtet. Gestern war es so weit. Nervöse Lehrer begrüßten vor Schulen in Baden-Württemberg ihre Schützlinge, Kultusminister sandten besorgte E-Mails an Schulen, im Minutentakt gingen Meldungen zum Zustand der deutschen Lehranstalten über die Agenturen.

Für – bis Redaktionsschluss – mehr als ein halbes Dutzend junger Leute war das gestern ein Unglückstag. Sie wurden eingesperrt. Am Morgen nahm die Polizei in Offenburg drei junge Männer, darunter einen Schüler, fest. Später führten Beamte auch in Köln und anderen Städten Schüler ab. Der Vorwurf jeweils – sie hätten Amokläufe angekündigt. Ob aus Spaß oder Ernst, blieb offen. Jedenfalls erhärteten sich bei keinem Arretierten Verdachtsmomente auf echte Anschläge. Sie wurden in die Psychiatrie eingewiesen – oder freigelassen.

Vor zwei Wochen hatte in Emsdetten (Nordrhein-Westfalen) ein Schüler seine ehemalige Realschule mit Waffen und Bomben angegriffen. Auslöser der gestrigen Kettenreaktion, die schnell die Schulen im ganzen Land verunsicherte, war nun eine Amokwarnung von Baden-Württembergs Kultusminister Helmut Rau (CDU). Der hatte am Mittwoch eine E-Mail an seine Schulen verschickt. „Eine anonyme Person“, stand darin, habe „angekündigt, am Nikolaustag in seiner Schule in Baden-Württemberg Amok zu laufen. Auf Nachfrage bestätigte die Person, dass es ihr damit Ernst sei.“

Nach der Veröffentlichung dieser Mail war kein Halten mehr. Schulleiter, Eltern, Schüler, Polizei und, allen voran, die Medien jazzten Raus Besorgnis zur Hysterie hoch. Am schlimmsten vielleicht für einen 18-Jährigen. Dessen Vater rief am Donnerstag bei der Polizei an, sein nervlich angespannter Sohn sei mit einer Waffe unterwegs. Eine Großfahndung wurde ausgelöst – wenig später fand man die Leiche des Jungen, der sich selbst getötet hatte. Ein Tag später sagte die Polizei: Er hatte mit der Amokdrohung nichts zu tun.

Gestern setzte die Schulministerin Nordrhein-Westfalens, Barbara Sommer (CDU), noch einen drauf. Auch sie versandte eine Appellmail an ihre Schulen – ohne jeden konkreten Verdacht. „Das ist ein Gebot der Stunde“, verwies eine Sprecherin Sommers, „es geht darum, erneute Amokläufe zu verhindern. Wir wollen Schulen im Umgang mit Gewalt stärken.“ Was geschah, war das Gegenteil. Sofort verstärkte sich die Hysterie, es kam zu Panikreaktionen. Ab jetzt waren Sticheleien, Trittbrettfahrerei und echte Verdachtsmomente nicht mehr unterscheidbar.

In Köln wurden zwei 15- und 16-jährige Schüler festgenommen, weil Lehrer einen Zettel mit der Überschrift „Amok-Liste“ fanden. Im sächsischen Döbeln wurde eine Schule evakuiert und nach Bomben durchsucht. In Freudenberg (NRW) verhaftete ein Polizist einen 15-Jährigen. Der Beamte war zufällig in der Schule und bekam mit, dass der Junge Drohungen ausstieß – so wie es täglich an hunderten von Schulen überall in Deutschland geschieht.

Die Zwischenbilanz – ein Toter, mehrere Festgenommene, aufgeregte bis panische Schulen, tausende Anrufe bei Krisen-Hotlines – setzen manche nun auf das Konto der Kultusminister, allen voran das von Helmut Rau. „Das war unprofessionell und leichtfertig“, sagte Josef Schneider, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Baden-Württemberg. Die vorschnelle Warnung habe die Arbeit der Polizei erschwert. „Jetzt haben wir nichts, jetzt haben wir Chaos.“ Ein Ende der verstärkten Polizeipräsenz an Schulen sei überhaupt nicht absehbar, so Schneider weiter. Man hätte die Schulen schützen können, „ohne die Schüler oder Lehrer zu gefährden“.

Minister Rau verteidigte sich gegen die Vorwürfe. „Es gab keine Alternative zur Warnung an die Schulen“, sagte er der taz. Rau hatte am Dienstagmorgen die Nachricht der Sicherheitsbehörden bekommen, dass in einer Chatgruppe des Spiels Counterstrike ein Junge konkret angedroht hatte, am Nikolaustag Amok zu laufen. Am Nachmittag, wenige Stunden vor dem 6. Dezember, informierte ihn die Polizei, sie könne die Person nicht identifizieren. In der Abwägung, Panik auszulösen oder einen Anschlag zu verhindern, entschied sich Rau dann für die Warnung. „Natürlich haben wir Unruhe ausgelöst“, sagte ein Sprecher Raus, „aber was wäre passiert, wenn die Tat umgesetzt worden wäre?“

Gleichzeitig widmeten sich auch die Landesfürsten dem neuen Megathema Bildung – aber mit Gemach. Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) sagte in Stuttgart, mit den Kommunen darüber sprechen zu wollen, ob mehr Schulpsychologen eingestellt werden müssen. Keine schlechte Idee. Heute gibt es in Deutschland für 16.500 Schüler einen Schulpsychologen. Sogar zur Zeit des Amoklaufs von Erfurt im Jahr 2001 gab es an den Schulen mehr.

Die Person aus dem Chat, die die erste Drohung ausgesprochen hatte, ist unterdessen noch nicht ermittelt.