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Archiv-Artikel

Ist es schlimm, wenn das Semikolon stirbt?

VERLUST Selbst Literaten benutzen den Strichpunkt immer seltener. Obwohl er doch seinen Platz hat zwischen Komma und Punkt

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JA

Sybille Schmitz, 39, ist Professorin für Mediadesign, Schwerpunkt Typografie

Das Semikolon wird gern als Zwitter bezeichnet, als Zwischending zwischen Punkt und Komma – mit negativem Unterton. Es ist fürwahr ein Zwitter, ein Hybrid aus zwei unverzichtbaren Satzzeichen und ebendarum hat es seine Berechtigung. Es fügt sich prächtig dort ein, wo ein Punkt zu stark trennt – gleich einem Säbelhieb eine Zäsur setzt – und mit einem Komma eine starke Abhängigkeit fortbestünde. Typografisch richtig gesetzt hat der Strichpunkt etwas Abstand zum vorhergehenden Wort und hält einen regulären, ganzen Wortabstand zum folgenden. Hier findet sich schon im Schriftbild, von Lesenden höchstens unbewusst wahrgenommen, was das Semikolon dem Schreibenden bietet: die Möglichkeit, Gedanken nuanciert zu formulieren.

Nathalie Wiesheu, 19, ist im Vorstand der StadtschülerInnenvertretung München

Jedes Satzzeichen hat seinen Wert, einen Grund, warum es überhaupt in den Sprachschatz gelangt ist. Deshalb führt der Trend unter Jugendlichen, Satzzeichen aller Art einfach wegzulassen, vor allem in sozialen Netzwerken zu enormen Verständnisschwierigkeiten. Wenn das so weitergeht, wird hier bald über das Aussterben des Fragezeichens diskutiert. Ein anderer Trend wirkt allerdings sowohl den Verständnisschwierigkeiten als auch dem Aussterben von Satzzeichen entgegen – die Smilies. Dabei wird das Semikolon im digitalen Zwinkern benutzt – und in diesem Rahmen wird es sicher niemals aussterben, denn Ironie oder Zweideutigkeit werden im rein Schriftlichen nie so gut transportiert wie so: ;-)

Theodor W. Adorno, 1903–1969, war Philosoph und Soziologe. Aus dem Essay „Satzzeichen“

Das Semikolon erinnert optisch an einen herunterhängenden Schnauzbart; stärker noch empfinde ich seinen Wildgeschmack. Theodor Haecker erschrak mit Recht darüber, daß das Semikolon ausstirbt: er erkannte darin, daß keiner mehr eine Periode (einen langen Schachtelsatz, Anm. d. Red.) schreiben kann. Dazu gehört die Furcht vor seitenlangen Abschnitten, die vom Markt erzeugt ward; von dem Kunden, der sich nicht anstrengen will und dem erst die Redakteure und dann die Schriftsteller sich anpaßten. Durch das Opfer der Periode wird der Gedanke kurzatmig. Die Prosa wird auf den Protokollsatz heruntergebracht, auf die bloße Registrierung der Tatsachen, und indem Syntax und Interpunktion des Rechts sich begeben, diese zu artikulieren, Kritik an ihnen zu üben, schickt bereits die Sprache sich an, vor dem bloß Seienden zu kapitulieren. Mit dem Verlust des Semikolons fängt es an, mit der Ratifizierung des Schwachsinns hört es auf.

Marlou Lessing, 50, ist taz-Leserin und hat unseren Streit per E-Mail kommentiert

Das Semikolon ist mein Lieblingszeichen. Nicht weil es lebenswichtig wäre, sondern weil es den Satz atmen und denken lässt. Das Komma ist ein Arbeitstier; es ist der Notwendigkeit verhaftet. Die Zäsuren, die es in den Satz legt, sind Scharniere, aber kein Innehalten in seinem Fluss. Ein Semikolon gibt der Pause ein lebendiges Vibrato. Natürlich meinen viele, dass wir das nicht brauchen. Das sind jene Leute, die allem misstrauen, das sich nicht in Euro und Cent ausdrücken lässt. Man muss diesen Menschen den weiten Horizont der Sprache zeigen. Auch in ihnen schläft ein verschüttetes Semikolon! Dinge wie Großflughäfen, die diese Kommatypen erschaffen, brauchen wir nicht. Erlöst sie und uns! Semikoliert sie!

NEIN

Bastian Sick, 48, ist Journalist und Autor von „Der Dativ ist dem Genetiv sein Tod“

Schon vor 20 Jahren stellte der Sprachkritiker Wolf Schneider fest: „Fünf der sieben Satzzeichen kommen kaum noch vor oder überhaupt nicht mehr.“ Das Thema ist also nicht neu. Unter den Satzzeichen ist das Semikolon etwa das, was unter den Fällen der Genitiv ist: Man muss es nicht beherrschen, um über die Runden zu kommen – aber es schadet auch nicht; denn je mehr Möglichkeiten man kennt, desto differenzierter kann man sich ausdrücken. Das Semikolon ist ein Mittel der Verfeinerung. Die Definition lautet: „Ein Satzzeichen, das stärker trennt als ein Komma, aber doch den Zusammenhang eines größeren Satzgefüges verdeutlicht.“ Da es nicht jedem Menschen gegeben ist, „im Zusammenhang eines größeren Satzgefüges“ zu denken, wird vom Semikolon kaum Gebrauch gemacht. Dafür kommt es heute anderswo zum Einsatz: als Zwinker-Smiley. Diese Funktion wird ihm für mindestens eine weitere Generation das Überleben sichern.

Anatol Stefanowitsch, 44, ist Sprachwissenschaftler an der Freien Universität Berlin

Wozu das Semikolon gut ist, kann niemand genau sagen. Der Duden, sonst um Regeln nicht verlegen, fasst die gesammelten Erkenntnisse von Sprachwissenschaft und Stilistik ungewohnt unscharf zusammen: Wenn ein Komma zwei Sätze zu schwach, der Punkt dagegen zu stark voneinander abgrenzen würde, dann greife man zum Semikolon. Was „stark“ und „schwach“ hier bedeuten, bleibt ungeklärt. Beim Schreiben kann das Semikolon durchaus nützlich sein: Wir können damit eine Beziehung zwischen Sätzen herstellen, ohne darüber nachzudenken, worin diese Beziehung besteht. Aber spätestens beim Lesen rächt sich diese Ungenauigkeit. Ein Satzzeichen also, dem niemand nachtrauern müsste. Dass sein Verschwinden manchem als Projektionsfläche für einen Kulturverfall dient, sei ihm gegönnt – so findet es kurz vor seinem Ende doch noch eine Daseinsberechtigung.

Jens-Uwe Krause, 44, Semikolon-Gegner, arbeitet als Radiomoderator bei Bremen Vier

Das Semikolon ist für die Sprache das, was Marcel Schmelzer für die WM ist: Verzichtbar! Wikipedia sagt: „Das Semikolon bewirkt eine stärkere Trennung als das Komma, aber eine Schwächere als der Punkt.“ Der Satz „Wir können ja Freunde bleiben!“ ist demnach das Semikolon des Schlussmachens. Wischiwaschi. Und gerade in Zeiten der virtuellen Unverbindlichkeit sehnen wir uns doch nach Klarheit! Wer trotzdem das Aussterben des Semikolons schwer verkraftet, dem sei gesagt, dass der mittlere Abschnitt des menschlichen Dickdarms ebenfalls Kolon genannt wird. Ein Semikolon ist folglich sowas wie ein halber Dickdarm. Oder um es populärwissenschaftlich zu formulieren: „Das Semikolon ist für’n Arsch!“ Es ist die Abseitsregel der deutschen Grammatik: Jeder hat davon gehört, aber erklären können es nur die Wichtigtuer.

Felix Kutschinski, 23, ist taz-Leser und Student. Er hat sich per E-Mail an der Debatte beteiligt

Das Semikolon dient meist der Verkomplizierung von sowieso schon zu langen Sätzen. Literatur muss nicht in einer Sprache verfasst werden, die abschreckt. Leicht verständliches Schreiben baut Hürden ab. Ich habe zu Hause Deutsch gesprochen, meine Eltern halfen mir bei schwierigen Texten. Das ist aber nicht selbstverständlich. Einfache Texte können alle erreichen. Wir alle sollten lernen, das, was wir sagen möchten, auf den Punkt zu bringen. Nicht auf das Semikolon.