: Russland sieht die Schuld beim Westen
Russlands Öffentlichkeit erfährt nur wenig von der Polonium-Affäre. Und eigentlich sei Präsident Putin ihr Opfer
MOSKAU (taz) ■ In Russland hat das Vereinigte Königreich die USA als Feindbild inzwischen eingeholt. Einen Tag nach dem Tod des russischen Exspions Alexander Litvinenko bekam dies auch die BBC zu spüren. Der russischsprachige World Service verschwand in Moskau aus dem Äther. In Sankt Petersburg hatten die Behörden der BBC schon elf Tage früher klammheimlich den Saft abgestellt. Der Sender erfuhr dies erst von erbosten Hörern, die vergeblich auf der Suche waren.
Russlands Öffentlichkeit erfährt nur häppchenweise von der Polonium-Affäre. Und wenn, dann ordnen die Medien das Geschehen meist so ein: Tatsächliches Opfer des hinterhältigen Anschlags sei Präsident Wladimir Putin und mit ihm Mütterchen Russland: „Der Westen und Russlands räuberischer oligarchischer Untergrund brauchen einen schwachen Präsidenten. Das ist es, warum Putin von der Polonium-Äquivalent-Propaganda verstrahlt wird“, meint Wjatscheslaw Kostikow in dem auflagenstärksten Millionenblatt Argumenti i Fakti. Kostikow war unter Präsident Boris Jelzin ein westlich orientierter Pressechef des Kremls. Seine Spuren führen zu dem einst einflussreichen Oligarchen Boris Beresowski, der sich Anfang 2000 ins Londoner Exil absetzte. Litvinenko hatte die frühere graue Eminenz des Kreml vor einem Mordauftrag des Geheimdienstes gewarnt. Inzwischen ist dies die am meisten verbreitete Version.
Der flüchtige Milliardär zieht nach dieser Legende überall die Fäden. Wohl unbeabsichtigt erweist sich der Exilant einflussreicher als Kremlchef Putin und die hunderttausenden Mitarbeiter des Geheimdienstes. Der Westen habe das heimtückische Attentat eingefädelt.
Russland zeigt sich von einer schwachen Seite. Gegen globale Unübersichtlichkeit ist es nicht gewappnet. Deswegen greift es zu ewig gleichen Ausflüchten: „Alle Ausländer neiden Russland seinen Reichtum und seine Macht. Suchen bei uns Meutereien zu veranstalten, um den Zaren zu stürzen und überall ihre Herrschaft, ihre Regenten über uns einzusetzen, um uns zu berauben und zu ruinieren“, sagt ein Agentenausbilder in Maxim Gorkis Roman „Der Spitzel“. Mehr als hundert Jahre sind seither vergangen.
KLAUS-HELGE DONATH