: Wie die Welt geordnet ist
ARABISCHE FILME „Cairo Station“ erzählt von der Obsession eines Zeitungsverkäufers, der sich in eine unnahbare Getränkehändlerin verliebt – einer der „besten arabischen Filme“ im Arsenal
VON LUKAS FOERSTER
Auf einmal scheint alles möglich zu sein: Auf dem Ramses-Platz in Kairo, vor einem mächtigen Springbrunnen, erklärt Qinawi Hanuma seine Liebe und bittet sie, seine Frau zu werden. Hanuma lacht ihn aus, wie sie das stets tut, wenn wieder einmal einer der vielen Männer, die um sie herumschwirren, ihr zu nahe zu kommen droht; doch als er beginnt, ihr ein gemeinsames Leben auszumalen, auf einem Bauernhof, eine ruhige, gesicherte Existenz weitab vom täglichen Überlebenskampf der Großstadt, spielt sie das Gedankenspiel mit, zumindest für einen kurzen Moment. Auch ihr Blick verklärt sich, träumt mit ihm gemeinsam von einem anderen Leben. Schnell schaltet sie dann wieder um, weist ihn zurecht: Du bist ein armer Zeitungsverkäufer, mach dir keine Illusionen. Das gute Leben ist außer deiner Reichweite. Und ich – das bleibt unausgesprochen – bin es auch.
Die Szene stammt aus Youssef Chahines Film „Cairo Station“. Das Dubai International Film Festival hat ihn kürzlich zu einem der „100 Greatest Arab Films“ erklärt. Das Arsenal zeigt auf Grundlage dieser Bestenliste das Filmprogramm „Best of Arab Cinema“ mit acht Filmen aus sechs Jahrzehnten und fünf Ländern. „Cairo Station“, gedreht 1958, ist der älteste Film der Auswahl – und gleichzeitig derjenige, der am modernsten wirkt.
Man könnte „Cairo Station“ als einen sozialrealistischen Film noir beschreiben. Ausgangspunkt ist das politische, soziale und erotische Chaos der Gegenwart. Auf den Bahnsteigen wimmelt es nur so vor wütenden Gewerkschaftlern, die gegen korrupte Bosse mobilisieren, liberalen Feministinnen, die gegen die Unterdrückung der Frau in der Ehe protestieren, heimlich Liebenden, die sich aus abfahrenden Zügen verstohlen zuwinken, und Kisten mit blutigem Inhalt.
Vor allem trägt Hind Rostom, die „großen Verführerin“ des ägyptischen Kinos, als Hanuma die Unruhe in den Bahnhof. Sie verkauft illegal am Bahnhof Getränke, versteckt sich unter den wartenden Zügen vor der Bahnhofsaufsicht, preist ihre Ware mit Vorliebe tanzend an und flirtet, wenn sonst niemand da ist, auch mal mit der Kamera. Sie bringt die ganze Welt aus der Fassung. Und Qinawi sowieso.
Als dieser nach der Zurückweisung verstört Abstand nimmt von seiner Angebeteten, folgt ein Schnitt. Vorher waren die beiden nebeneinander vor dem Brunnen zu sehen, in der nächsten Einstellung steht er ratlos in die Welt schauend neben der berühmten Statue des Pharaos Ramses II., die lange ein Wahrzeichen der ägyptischen Hauptstadt war, bevor sie 2006 aus konservatorischen Gründen abmontiert wurde. Es ist nicht einfach nur böswillige Ironie, wenn ausgerechnet Qinawi, der Lumpenproletarier, der in einem Bretterverschlag haust und dort langsam ob der vielen blonden Pin-up-Girls, die er sich an die Wände heftet, verrückt wird, sich den Bildraum mit dem Signum imperialer Macht teilt. Eher geht es dem bis in jede einzelne Einstellung hinein eigensinnigen Film darum, ein grundsätzliches Unbehagen zu zeigen, das mit allen gesellschaftlichen Hierarchien mitläuft und das in einem chaotischen, chronisch überfüllten, sozial durchmischten Ort wie einem ägyptischen Großstadtbahnhof greifbarer ist als anderswo: Warum, fragt der Film, ist die Welt so geordnet, wie sie ist? Wenn sie doch so, wie sie ist, niemanden glücklich macht.
Der erst 2007 verstorbene Altmeister Chahine hat diese Frage immer wieder gestellt. Im Arsenal-Programm ist er noch mit einem weiteren Film vertreten: „Al-ard“ von 1969 spielt nicht in der Stadt, sondern auf dem Land, erzählt von Bauern, die sich gegen einen Großgrundbesitzer wehren, der ihnen das Wasser abdrehen möchte. Ein Wahnsinnsfilm, auch mit einer tollen Frauenrolle: Die Bauerntochter Wasifa taucht das erste Mal als Spiegelung in einem Teich auf. Da weiß man schon, dass sie nicht dingfest gemacht werden wird, von niemandem.
■ Best of Arab Cinema: Arsenal, 13.–16. Juni