crime scene
: Das Ich nach der Amnesie: Zwei neue Titel beleben das in der Sinnkrise steckende Genre des Agententhrillers

Wenn an Agententhrillern etwas spannend ist, dann das Spiel mit der Identität. Ein guter Autor könnte echte philosophische Funken schlagen aus dem Versteckspiel aller gegen jeden; denn die Frage, wer man denn ist und wem man trauen kann, treibt einen schließlich auch im tiefsten Grunde des wirklichen Lebens um. Doch Autoren von entsprechendem Kaliber tun meist den Teufel, ausgerechnet Agentenromane zu schreiben. Entsprechend schlecht steht es um das Genre, das durch das Ende des Kalten Krieges in eine schwere Sinnkrise geworfen wurde und sich erst dank al Qaida & Co allmählich davon erholt. Interessant an Robert Littells Thriller „Die kalte Legende“ ist es denn auch, zu sehen, wie das Kalter-Krieg-Schema und das Al-Qaida-Schema miteinander verschmelzen. Doch ansonsten kommen bei diesem typischen Genreprodukt vor allem Agententhriller-Junkies auf ihre Kosten. Immerhin hat die Hauptperson ein eindeutiges Identitätsproblem: Martin Odum, Privatdetektiv mit CIA-Vergangenheit, quält sich mit der Ungewissheit darüber, welche seiner „Legenden“, wie die CIA die erfundenen Identitäten ihrer Agenten nennt, sein wahres Ich sei. Ein Trauma, dessen Ursprung der Leser ahnen darf, hat Martins Erinnerungen teilweise gelöscht, so dass nur ein paar Legenden ihm noch präsent sind. Diese führen das vielseitige Leben einer multiplen Persönlichkeit. Eine hanebüchen motivierte detektivische Ermittlung führt den Ex-Agenten über die Kontinente, oberflächlich auf der Suche nach einem Schurken, eigentlich nach sich selbst. Die Persönlichkeitsspaltung nimmt man der Figur dabei nicht eine Sekunde lang ab. Und auch die klischeehaft gestrickte Handlung wartet nicht mit wirklichen Überraschungen auf.

Doch so muss es nicht sein. Wie man die Requisiten eines Agententhrillers geschickt nutzt, um daraus einen wirklich dichten, spannenden Roman über die Suche nach einer verlorenen Identität zu machen, lässt sich bei Jenny Siler studieren: „Ticket nach Tanger“ startet mit einem Massaker in einem französischen Nonnenkloster; und dieser blutige Auftakt, der nicht effekthascherisch, wohl aber effektvoll daherkommt, zeigt die große erzählerische Sicherheit, mit der die Autorin ihre Hauptfigur durch eine Albtraumwelt führt, in der das Außen das Innen spiegelt und umgekehrt. Die junge Frau, die durch einen Zufall dem Blutbad entronnen ist, war ein Jahr zuvor angeschossen aufgefunden und, da sie sich an nichts erinnern konnte, im Kloster aufgenommen worden. Nun ist Eve, wie die Nonnen sie genannt haben, erneut heimatlos und besitzt als Hinweis auf ihr früheres Leben nichts als ein paar Kleidungsstücke US-amerikanischen Fabrikats und ein Fährticket nach Tanger. Im Labyrinth der Gassen marokkanischer Städte begibt sie sich auf die gefahrvolle Suche nach ihrer wahren Identität.

Dabei lässt Siler nichts aus, was nicht auch im herkömmlichen Agententhriller als Spannungselement verwendet würde. Wahre und falsche Verbündete tauchen auf. Etwas Liebe bahnt sich an, doch was ist daran echt? Anschläge auf Eves Leben werden ausgeübt. Sie wird gefoltert. Sie ist misstrauisch sich selbst gegenüber, seit sie entdeckt hat, dass sie auch selbst gelernt hat, Gewalt anzuwenden.

Der übliche Wirrwarr aus Motivationen und Verstrickungen löst sich schließlich auf in eine im Grunde einfache Geschichte. So ist es ja immer, und doch ist es hier anders. Denn dieser Ich-Erzählerin, die nichts von sich weiß und die niemals ihre Emotionen vor uns preisgibt, folgen wir bedingungslos auch durch das dichteste Handlungsdickicht. Und trotz allem bleibt Eve uns über den Schluss hinaus eigentlich ein Rätsel. Faszinierend. KATHARINA GRANZIN

Robert Littell: „Die kalte Legende“. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Scherz Verlag, Frankfurt/M. 2006, 447 S., 19,90 Euro Jenny Siler: „Ticket nach Tanger“. Aus dem Englischen von Susanne Goga-Klinkenberg. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2006, 315 S., 7,95 Euro