Elternbesuch im Sexzimmer
LEBEN Unsere Autorin wohnt in einer funktionalen WG. Alle Räume werden geteilt. Wie das geht? So
Eindruck: Uh, klein. Einrichtung: Zwei Doppelmatratzen mit bunten Decken, zerwühlt. Zwei schmale Kleiderschränke, aus denen sich alle bedienen können, und für jeden eine „Dropbox“ für persönliches Zeug. Funktion: Gruppenkuscheln, morgendliche Weckersinfonie. Gimmick: Die Gutenacht geschichtslesungen von Henry. Momentan aus Marc-Uwe Klings Kängurubüchern. Typischer Dialog: „Lou, dein Wecker, aufstehen!“ „Grrrmpflt.“
VON LOU ZUCKER (Text) und Yvonne Kuschel (Illustration)
Niemand in meiner WG hat ein eigenes Zimmer. Mit meinen Mitbewohnern teile ich Schlaf-, Arbeits-, Wohn- und Sexzimmer. Funktionales Wohnen heißt das, weil die Zimmer nicht nach Bewohner*innen, sondern nach Funktionen aufgeteilt sind. In großstädtischen Milieus scheint das ein Trend zu sein, viele haben allerdings noch nie davon gehört. Deshalb hier die häufigsten Fragen und Antworten.
Eindruck: Enttäuschend. Einrichtung: Bett (Metallgestell), Nähmaschinentisch mit Stuhl. An der Wand hängt ein Venedig-Poster, auf dem sich Liebende vorm Markusplatz umarmen. Funktion: Manchmal Sex. Sonst Besuchzimmer für Eltern oder Freunde. Gimmick: Im Liegen kann man aus dem Fenster auf die Straße schauen. Typischer Dialog: „Gute Nacht.“ „Ich kann hier nicht schlafen. Das doppst, das Bett!“
Waaaaaaas? Viele meiner Gesprächspartner*innen sind fassungslos, wenn sie hören, wie ich wohne. Erstaunlich – Familienwohnzimmer, Kinderzimmer, Großraumbüros: so außergewöhnlich ist es auch wieder nicht, sich für bestimmte Aktivitäten mit mehreren Menschen einen Raum zu teilen.
Feiert ihr in eurem Gemeinschaftsbett jede Nacht Orgien? Auch wenn ich die Fantasien vieler Leute zerstören muss: Unsere Wohngemeinschaft hat mit einer Art von Familienleben viel mehr zu tun als mit dem Revival einer 68er-Kommune und freier Liebe. Nur ohne die Hierarchien, die in einer Familie bestehen.
Unterschiedliche Wecker, Schnarchen – stört das nicht? Für Wecker gibt es ein Snoozeverbot (was ich regelmäßig breche). Solange das Schnarchen nicht Wände erzittern lässt wie bei meinem Opa, schlafe ich gerne in dem Wissen ein: Da ist noch jemand. Wegen solcher Kleinigkeiten würde ich nie darauf verzichten, mich abends zu meinen Mitbewohnern ins Bett fallen lassen zu können und eine Känguru-Geschichte vorgelesen zu bekommen.
Eindruck: Schön hell. Einrichtung: Zwei Arbeitstische mit Bürosesseln, darauf zwei Laptops, ein Ampelmännchenkalender. Ein Aktenschrank aus amerikanischen Kaviarkisten mit Medizin-, Geografie-, Psychologiefachliteratur. Und ein Schlafsofa. Funktion: Hausarbeiten und Klausurvorbereitung. Gimmick: Wenn alle zusammen lernen. Dann schafft man so richtig was. Typischer Dialog: „Paraaminohippurat...oha!“ „Pssscht!“
Alle in einem Arbeitszimmer, könnt ihr euch konzentrieren? Oft hilft das Knistern der Synapsen der anderen bei der Konzentration, wie in der Bibliothek. Nur dass wir zusätzlich spannende Details und die Kanne Kaffee miteinander teilen können – und Bürokram wie Tacker, Locher und Drucker.
Eindruck: Es duftet. Spinat. Einrichtung: Küchenschränke, Kühlschrank, Herd. Auf einem Poster eine Fotolovestory mit Hubertus, dem Skelett. Funktion: Gemeinsames Kochen. Gimmick: Ein uraltes, aufgeblähtes Tetra Pak „Holzmichel-Sangria“, Dauergag bei jeder Feier. Typischer Dialog: „Ich war einkaufen.“ „Zwei Tüten? Das macht einen Euro in die Plastiktütenpolizei-Sammelbox.“
Haben manche von euch eine Beziehung? Es gab Zeiten, da hatten drei von uns außer unserer platonischen Viererbeziehung noch eine romantische Zweierbeziehung. Für Privatsphäre gibt es das Sexzimmer und noch ein Bett im Arbeitszimmer.
Eindruck: Woah, groß. Einrichtung: Viele Stühle, Ledersofa. Großer Tisch. Dekoration: Mit Ostereiern behangener Kaktus und Hubertus, ein bemaltes Skelett mit Aladinhose. Pinnwand mit Greenpeace- Flyern und Abriss des WG-Plenums. TOP 8: „Gemüsekiste? Nein!!“ Funktion: Abhängen, Tanzen, Essen, WG-Plenum. Gimmick: Schaukelstuhl. Typischer Dialog: „B.a.B.?“ (heißt: Bock auf Bier/Bett/Brot?) „Jo.“ Texte: Christoph Farkas
Reicht ein Sexzimmer? Ganz ehrlich: Unser Rückzugsraum wird außer zum Wäschetrocknen und für Elternbesuch so gut wie nie benutzt. Pärchen schlafen meistens im Arbeitszimmer, weil das Bett bequemer ist.
Hat funktionales Wohnen euch verändert? Nach zwei Jahren haben viele Dinge ein anderes Gewicht bekommen. Eigentum etwa. Die Jungs wissen, glaube ich, schon nicht mehr so genau, wem welches T-Shirt gehört. Und ich zucke zusammen, wenn ich bei Freundinnen höre: „Mein Kühlschrankfach ist das obere.“ Ich habe sehr viel gelernt: über das Lösen von Konflikten, meine eigenen Bedürfnisse, über Achtsamkeit, Kompromissbereitschaft, Toleranz und Kommunikation. Und dabei habe ich eine Erkenntnis gewonnen: Dass mir Gemeinschaft wichtiger ist als ein Zimmer, das nur mir gehört.