: Zwischen Ich und Alter Ego
Die Welt als Kopiermaschine: In ihrem Stück „Der Zwilling“ fragt Margareth Obexer nach den sozialen und emotionalen Konsequenzen künstlicher Reproduktionstechnologien. Uraufführung in Dresden
von ROBERT HODONYI
Fakten und Fiktionen verschwimmen wohl in keinem anderen wissenschaftlichen Bereich so sehr wie in der Bio- und Gentechnologie. Das „Abwerten bio/technologischer Annahmen“, so der Untertitel des vor einigen Jahren erschienenen schönen Sammelbandes „geld. beat. synthetik“, scheint heute angesichts eines schier unbegrenzten Zugriffs auf das menschliche Genom und der damit verbundenen medizinisch-technizistischen Erlösungsrhetorik dringlicher den je.
In ihrem neuen Stück „Der Zwilling“, das im Kleinen Haus in Dresden uraufgeführt wurde, greift die Theater- und Hörspielautorin Margareth Obexer aktuelle biopolitische Diskurse auf und reflektiert die damit einhergehenden Folgen ethischer Grenzverschiebungen. Das schon im Titel angelegte Duplizitäts- beziehungsweise Doppelgängermotiv ist literaturgeschichtlich vielfach kodiert – man denke an Kleists „Amphitryon“ oder Dostojewskis „Der Doppelgänger“. Von Obexer wird es nun vor dem Hintergrund künstlicher Reproduktionsverfahren entfaltet: Nicht mehr Figurenverwechslung und vielfältige Täuschungsmanöver bestimmen die Szenerie, der dramatische Konflikt ergibt sich aus der fast spirituellen Anziehung und Abstoßung von natürlichem Ich und artifiziellem Alter Ego.
Schwebend beginnt die Inszenierung der jungen Regisseurin Nina Gühlstorff. Kokonhaft eingesponnen in silbernen Schlafsäcken treiben die beiden Zwillingsbrüder, Adrian (Julian Hackenberg) und der „Secondhandmensch“ Rubin (Jan Andreesen), von der Welt entrückt im freien Raum über der Bühne. Dieses ätherische Bild des Prologs ist paradigmatisch für das gesamte Stück: In dem Moment, wo ein Körper geschaffen wird, um einen anderen zu erhalten, geraten die sozialen und emotionalen Fugen der Gesellschaft dermaßen auseinander, dass das Scheitern eines humanen Lebens vorprogrammiert ist. So fragt die Autorin im Programmheft, wie eine Gemeinschaft damit umgehen will, „wenn sie den an sich bestehenden Wert eines Lebens von einem solchen zu unterscheiden hat, das nur für ein anderes existiert“.
Weil Adrian einen passenden Knochenmarkspender braucht, wird Rubin aus Eizellen, die seine Eltern zur Vorsorge einfrieren ließen, nachträglich gezeugt, ohne dass die Brüder von einander erfahren. Die Figurenäquivalenz des Stückes, die vielfachen biografischen Spiegelungen in der Imagination der Mutter (Hannelore Koch) folgen dabei einer multiperspektivischen Logik, die in der Kreuzung der Lebenswege mündet und in der inszestuösen Verklammerung beider Körper.
Das Bühnenbild von Markus Karner mit seiner stark konturierten Zeichenhaftigkeit – bürgerliches Reihenhaus auf der einen Seite, trashiger Wohnwagen auf der anderen – ermöglicht dabei synchrone Einblicke in die verschiedenen Lebensmilieus. Während Adrian mit einem Zuviel an Bedeutung aufwächst, die elterliche Bürde trägt, etwas ganz Besonderes werden zu müssen, eine perfekte Karriere hinzulegen hat, ist Rubin als Waise groß geworden und assistiert beim Ausstopfen von Tierkadavern. In diesem Spannungsfeld von projizierter Einzigartigkeit und gefühlter Bedeutungslosigkeit werden die Identitätsgewissheiten aller Beteiligten dann Stück für Stück zerbröselt und neu vermessen. Allerdings fällt auf, dass ein wenig zu viel erklärt wird, besonders die Figur des Adrian sich ständig zum Verlauf der Handlung positioniert und der Inszenierung damit stellenweise ein lockerer Fluss fehlt.
Wenn die Welt als „eine reine Kopiermaschine“ gedacht werden kann, wie es im „Zwilling“ an einer Stelle heißt, lässt sich das nicht nur auf die natürliche oder von Menschen gesteuerte Zellteilung beziehen, sondern mit einigen Abstrichen auch auf kulturelle und habituelle Aneignungsprozesse übertragen. In der Bar „Zum Falschen Leben“ treffen sich Doubles von Popikonen und verwischen bipolare Geschlechteridentitäten. „Ich könnte dich fragen“, so Adrian zu Rubin, „was du in einer Bar machst, die sich ,Zum Falschen Leben‘ nennt, zu einer Musik singst, die nicht von dir ist, in Kleidern tanzt, die nicht dein Geschlecht sind und dir von Männern Scheine in den Ausschnitt stecken lässt …“
Adrian wirkt mit seiner Suche nach Authentizität und Eigentlichkeit in diesem Kontext zunächst verloren. In Rubin findet er jedoch sein Gegenüber, der in seiner mehrfach gebrochenen Identität sein Begehren erweckt. Und gerade in den Emotionen der Liebe und des Verlangens, hervorgerufen durch eine ambivalente Künstlichkeit, zeigt sich die nicht aufzulösende Verstrickung aller Figuren des Stückes in ein Netz aus Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, die immer auch Perfektion bedeutet, und Sehnsucht nach Selbstaufgabe, die immer ein funktionales Kalkül birgt. Der Charakter der Aufführung, der viele überraschende Handlungsebenen eröffnet und die Berührungspunkte zwischen Körper, Geschlecht und Artifizialität mal ernsthaft, mal ironisch verhandelt, macht aber immer deutlich, dass es hier um mehr geht als um bloße Gedankenspiele.