Tödliche Reise in die bessere Welt

Zwischen 80 und 102 Senegalesen sind auf dem Weg nach Europa ertrunken. Die Emigration aus Westafrika fordert immer mehr Opfer

VON DOMINIC JOHNSON

Das Drama der afrikanischen Auswanderung nach Europa mit kleinen Fischerbooten auf dem Atlantik hat seine bisher größte Katastrophe produziert. Wie das Rote Kreuz in Senegal gestern bestätigte, sind zwischen 80 und 102 senegalesische Emigranten ertrunken, als ihr hölzernes Fischerboot nach langer Irrfahrt im Atlantik havarierte. 25 Überlebende wurden am Samstag an der Küste nahe der nordsenegalesischen Stadt Saint-Louis von Fischern aufgegriffen und in kritischem Zustand in ein Krankenhaus gebracht.

Das Boot hatte eine einmonatige Reise hinter sich. Nach mehreren Stationen in Senegal selbst nahm es ab 4. Dezember mit 127 Passagieren Kurs auf die Kanaren, eine lange und gefährliche Reise durch stürmische See. „Wir dachten, wir kommen ohne Probleme nach Europa, denn wir hatten GPS-Navigationssysteme“, berichtete ein Überlebender, der Kleinunternehmer Siaka Dieng. „Vor der marokkanischen Küste kamen wir in einen Sturm. Die Wellen stoppten unsere Reise und zwangen uns, nach mehreren Tagen umzudrehen. Wir hatten nichts mehr zu essen und mussten Meerwasser trinken.“

Die 25 Schiffbrüchigen, die jetzt in der Notaufnahme der Klinik von Saint-Louis liegen, reden nach einem AFP-Bericht wirres Zeug und sind komplett entkräftet und unterkühlt. Was genau geschehen ist, wann und wo ihr Boot kenterte und was aus den anderen 102 wurde, können sie nur bruchstückhaft erzählen. Manche haben Bisswunden von Fischen, die sie sich im Meer zuzogen. Andere, sagen Ärzte, sind traumatisiert, stehen unter Schock, haben Halluzinationen und brauchen dringend psychologische Hilfe. Die wenigen Berichte, die bereits vorliegen, handeln von haushohen Wellen im Meer. Die Fischer, die sie retteten, hätten außerdem ihre ganze Habe gestohlen.

Am 4. Dezember soll ihr Boot von Djiffer abgelegt haben, einem idyllischen Strandort in der Mitte der senegalesischen Atlantikküste. Dies war eine Zwischenstation, nachdem die Reise am 15. November viel weiter südlich begonnen hatte, auf der Insel Djogué an der Mündung des Casamance-Flusses. Die Casamance – der Südteil Senegals, der zwischen Gambia und Guinea-Bissau liegt und wo seit zwei Jahrzehnten eine bewaffnete Rebellion die Unabhängigkeit fordert – ist zu einem Brennpunkt der illegalen Emigration geworden, seit weiter nördlich die Seepatrouillen der EU-Grenzbehörde „Frontex“ (siehe unten) und der senegalesischen Marine die Häfen überwachen.

Die Angst davor, von den EU-Patrouillen entdeckt zu werden, zwang die Migranten nicht nur zu einer längeren Reise, sondern könnte sie auch in den Tod getrieben haben. Erst am vergangenen Mittwoch wurden an einem Strand nahe Senegals Hauptstadt Dakar 29 Schiffbrüchige angeschwemmt. Sie berichteten, ihr Boot habe vor der Küste Mauretaniens kehrtmachen müssen, um nicht von den EU-Überwachern gesehen zu werden. 22 der Bootsinsassen seien unterwegs gestorben. Zwei der Geretteten starben noch am Strand.

Während die Migranten auf See waren, hat sich in der europäisch-afrikanischen Migrationspolitik einiges getan. Spanien und Senegal vereinbarten legale, kontingentierte Einwanderung: Am Mittwoch gewährte Spanien die ersten 75 von geplanten 4.000 Einreisevisa Senegalesen, die von spanischen Unternehmen ausgesucht worden waren. Am Freitag bestätigte der EU-Gipfel in Brüssel, die EU strebe nächstes Jahr unter deutscher Präsidentschaft eine Migrationspolitik gegenüber Afrika an, „die auf bestimmte Arbeitsmarktbedürfnisse von EU-Mitgliedstaaten abgestimmt ist“.

All das ist angesichts des Massenelends von Millionen perspektivlosen Jugendlichen in Westafrika nichts, vor allem nicht in der brodelnden Casamance, wo auch Einwanderer aus noch viel ärmeren Nachbarstaaten wie Guinea und Sierra Leone landen. Die Insel Djogué, wo das gekenterte Boot gestartet sein soll, ist ein Zentrum der organisierten Auswanderung. Senegals Regierung erklärte gestern, man starte dort heute eine „große Sensibilisierungskampagne“. Es seien am Freitag 17 Mauretanier verhaftet worden, die in die Casamance gereist seien, um mit einem Ghanaer zusammen lokale Auswanderer anzuwerben. Die Schlepper würden Dorfchefs umgerechnet rund 250 Euro pro Ausreisenden zahlen, erklärte die Gendarmerie, und kassierten von den Emigranten ein Mehrfaches dieser Summe als Reisepreis. Seit einigen Tagen nimmt die senegalesische Polizei außerdem in Saint-Louis wieder vermehrt Bootseigentümer fest, die Reisen auf die Kanaren anbieten.