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Archiv-Artikel

„Bewusst nicht emigriert“

JUDENTUM Ein neues Buch ergründet die Tradition der norddeutschen Rabbinerfamilie Carlebach

Von PS
Barbara Vogel

■ 73, emeritierte Professorin für Geschichte, ist Sprecherin des Carlebach-Arbeitskreises der Universität Hamburg.

taz: Frau Vogel, war Joseph Carlebach Naturwissenschaftler, Pädagoge oder Rabbiner?

Barbara Vogel: Er war all das – und sicher noch mehr. Er hat in Mathematik promoviert, die Staatsexamina für den Gymnasialdienst und eine Rabbinerausbildung gemacht. In den 1920er-Jahren wurde er Rektor der Hamburger Talmud-Tora-Schule, dann Oberrabbiner zunächst in Altona und ab 1936 in Hamburg.

Carlebach war orthodoxer Jude, aber auch Reformpädagoge. Vertrug sich das?

Anscheinend. Einerseits lebte er privat sehr orthodox und bekam mit seiner Frau binnen relativ kurzer Zeit neun Kinder. Andererseits war er derjenige jüdische Pädagoge, der Sportunterricht und Wanderfahrten einführte. Er sorgte dafür, dass ein freundschaftliches Lehrer-Schüler-Verhältnis herrschte und der Unterricht vom Kind her gedacht wurde.

1942 wurden Carlebach, seine Frau Charlotte und seine drei jüngsten Töchter in Lettland von den Nazis ermordet. Stimmt es, dass er Chancen zur Rettung ausgeschlagen hatte?

Es gibt tatsächlich Hinweise, dass er Möglichkeiten auszuwandern und sich zu retten, nicht wahrnahm, um die Gemeinde nicht im Stich zu lassen. Und aus Briefen seiner Frau geht hervor, dass sie etwas verzweifelt war über ihren Mann, der nicht wegwollte.

Das von Ihnen mit herausgegebene Buch, das heute vorgestellt wird, fußt auf der neunten Carlebach-Konferenz des Hamburger Carlebach-Arbeitskreises und der israelischen Bar-Ilan-Universität. Was waren deren Erkenntnisse?

Wir haben uns erstmalig mit der weit verzweigten Familie Carlebach befasst. Da gab es zum Beispiel Shlomo Carlebach, den „singenden Rabbi“ von New York, oder Salo Carlebach, den „Korczak von Westerbork“. Und Ezriel Carlebach ist nach Palästina emigriert und hat die Tageszeitung Haaretz gegründet. Wir haben also überlegt, ob es inzwischen eine Carlebach-Tradition gibt.

Mit dabei ist heute auch Carlebachs älteste Tochter Miriam. Welche Rolle spielt sie?

Eine entscheidende. Sie hat die Carlebach-Konferenzen gegründet und arbeitet seit den 1980er-Jahren an der Überwindung der Sprachlosigkeit zwischen den jüdischen ehemaligen Hamburgern und der Stadt Hamburg.

INTERVIEW: PS

Buchvorstellung „Wege Joseph Carlebachs. Universale Bildung, gelebtes Judentum, Opfergang‘“: 17 Uhr, Gästehaus der Universität, Rothenbaumchaussee 34. Anmeldung erbeten unter barbara.vogel@uni-hamburg.de