: „Hass auf die Regierung in Bagdad“
ISIS Nahostexperte Guido Steinberg über die Strategie der Islamisten und die Folgen für die Region und Europa
■ 46, ist promovierter Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. An der SWP forscht er über die Politik des Nahen Ostens und die Entwicklung des islamistischen Terrorismus.
INTERVIEW JANNIS HAGMANN
taz: Herr Steinberg, Isis hat Mosul und andere irakische Städte eingenommen. Wie sieht der Alltag unter Isis-Herrschaft aus?
Guido Steinberg: Isis setzt salafistische Verhaltensvorschriften unnachgiebig und umfassend durch. Sie achten darauf, dass Frauen sich voll verschleiern und dass nicht geraucht oder Musik gespielt wird. Eine solche Herrschaft wird schnell zu einem Schreckensregiment, denn die strikte Anwendung salafistischer Vorschriften geht mit Willkür einher. Es gibt Berichte über Hinrichtungen, Folter und Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung. Das gilt für einige Viertel von Falludscha, Raqqa und kleinere Orte in Syrien. In Mosul wird sich die Isis-Herrschaft zunächst auf eine Präsenz in den Straßen beschränken, da die Zahl der Isis-Kämpfer klein ist.
Die eroberten Gebiete sind fast ausschließlich sunnitisch-arabisch geprägt. Begrüßt die Bevölkerung dort den Feldzug der sunnitischen Extremisten?
Die meisten irakischen Sunniten fürchten Isis. Viele erinnern sich an die Zeit, in der die Vorgängerorganisation Al-Qaida im Irak ein ähnliches Schreckensregiment in kleineren Orten im Westirak führte. Unter den Opfern waren auch Sunniten aus konkurrierenden aufständischen Organisationen, Sicherheitskräfte und angebliche Kollaborateure. Die Sympathien für Isis sind deshalb schwach ausgeprägt. Das wird allerdings überschattet von einem ausgeprägten Hass auf die Regierung in Bagdad.
Premier Nuri al-Maliki stützt seine Macht auf schiitische Kräfte im Land. Viele sunnitische Iraker fühlen sich von der Regierung in Bagdad vernachlässigt, so dass Isis sich als Gegenmacht positionieren konnte. Trägt die Regierung eine Mitschuld an der Ausbreitung der Dschihadisten?
Die Regierung trägt die Hauptschuld. Mit sinkendem Einfluss der Amerikaner, besonders seit deren Abzug 2011, hat die Regierung Maliki immer unverblümter versucht, Sunniten und Säkularisten von der Macht fernzuhalten. Das zeigte sich deutlich nach den Wahlen 2010: Die von Sunniten und Säkularisten dominierte „Irakische Liste“ hatte gewonnen, wurde bei der Regierungsbildung aber übergangen, so dass Maliki Ministerpräsident blieb. Als die Amerikaner dann abzogen, verfolgte die Regierung führende sunnitische und säkularistische Politiker. Die scheinbare Stärke von Isis ist eine Schwäche der Regierung.
Sind es nur Isis-Kämpfer, die momentan vorstoßen?
Nein. Es nehmen auch andere Gruppierungen teil, zum Beispiel eine Vereinigung ehemaliger Baathisten unter der Führung des Saddam Hussein-Vertrauten Izzat Ibrahim ad-Duri und Splitter anderer aufständischer Gruppierungen.
Wie passen sunnitische Extremisten und baathistische Überbleibsel aus Hussein-Zeiten zusammen, die klar in einer säkular-nationalistischen Tradition verankert sind?
Die Baath-Diktatur hatte das sunnitisch-islamische Element schon Ende der 90er Jahre gestärkt, um ihre Machtbasis auszuweiten. Nach dem Irakkrieg 2003 erschien es vielen ehemaligen Angehörigen der Baath-Partei, der Armee und der Sicherheitskräfte nicht als Widerspruch, für islamistische Gruppen zu kämpfen. Armee und Baath-Partei waren aufgelöst worden, so dass viele keine andere Möglichkeit sahen zu überleben. Die Zusammenarbeit von Islamisten und Teilen des alten Regimes setzt sich nun fort, was eine weitere Erklärung für die Stärke von Isis ist. Viele der Kämpfer haben eine profunde militärische Ausbildung genossen.
Anfangs war al-Qaida ein Netzwerk, das einzelne Anschläge verübte. Isis scheint eine schlagkräftige Truppe zu sein.
Man muss sich al-Qaida als Netzwerk miteinander verbündeter, aber unabhängiger Organisationen vorstellen: die al-Qaida-Spitze in Pakistan, die Regionalorganisationen in Algerien und im Jemen und die Organisation im Irak. Diese wurde 2000 unter anderem Namen gegründet und hat enorm von der Präsenz der Amerikaner im Irak profitiert. Von einer kleinen terroristischen Gruppierung, die einzelne Anschläge verübte, entwickelte sie sich zu einer Gruppierung, die einen Guerillakrieg führte. 2004 benannte sie sich in Al-Qaida im Irak um – nicht weil sie sich Osama bin Laden unterstellen wollte, sondern weil sie so auf Rekruten und Geld aus Saudi-Arabien, Kuwait, Katar und den Emiraten Zugriff hatte. Die irakische al-Qaida war schon immer eine unabhängige und sehr starke Teilorganisation. Jetzt geht sie sogar fast konventionell militärisch vor. Eine Metamorphose der irakischen al-Qaida gibt es aber nicht; die äußeren Bedingungen haben sich geändert.
Ist die derzeitige Stärke von Isis auch auf die Kämpfe in Syrien zurückzuführen, in denen die Organisation eine zentrale Rolle spielt?
Die Lage im Irak wäre auch ohne Syrien eskaliert. Der Krieg hat eher zur Schwächung von Isis geführt. Die Organisation bestand – unter anderem Namen – schon seit 2003 aus Syrern, Saudis und anderen ausländischen Kämpfern. Bis Ende 2011 gingen sie noch in den Irak, seither zum Teil aber nach Syrien. Der Bürgerkrieg dort führt also zu einem Abzug von Ressourcen. Erst wenn die Zentralregierung in Bagdad eine Offensive gegen Isis startet, wird Syrien als Rückzugsgebiet von Bedeutung sein.
Warum stößt Isis derzeit vor allem im Irak vor?
Isis ist eine irakische Organisation. Der Name des Anführers – al-Baghdadi, also: „der, der aus Bagdad stammt“ – ist Programm. Abu Bakr al-Baghdadi geht es vor allem um einen islamischen Staat in seiner Heimat. Er versucht jetzt, im Norden des Irak und in den angrenzenden syrischen Gebieten eine Machtbasis aufzubauen, will dann Bagdad, dann Damaskus und schließlich Jerusalem einnehmen.
Das klingt nicht sehr realistisch. Vorstellbar ist aber ein neuer sunnitisch-arabischer Staat auf syrischem und irakischem Territorium. Das würde das Ende der alten nationalstaatlichen Ordnung im Nahen Osten bedeuten.
Es wird den aufständischen Kräften nicht gelingen, einen funktionierenden Staat aufzubauen. Was ich mir aber vorstellen kann, ist eine Zone, in der staatliche Gewalt vollkommen zusammenbricht. Im schlimmsten Fall werden wir es mit einem permanenten Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Gruppierungen zu tun haben.
Könnte die Lage im Irak die USA zwingen, in der Region – auch in Syrien – einzugreifen?
Die USA werden wohl in absehbarer Zeit – wenn auch nicht sofort – intervenieren. Wenn die irakische Regierung die Situation nicht unter Kontrolle bringt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Amerikaner Isis als so bedrohlich ansehen, dass sie im Nordirak und vielleicht auch in Syrien Kampfdrohnen einsetzen – so wie sie das in Pakistan, Jemen und Somalia tun.
Erstmals seit Ausbruch des Bürgerkriegs erleben wir, dass die Regionalmächte Iran, Saudi-Arabien, Türkei und auch die USA gemeinsame Interessen haben. Kann das Bewegung in den festgefahrenen Syrienkonflikt bringen?
Ich denke nicht. Die Iraner versuchen uns ja davon zu überzeugen, dass das einzige Problem in der Region der islamistische Terror ist. Das Assad-Regime ist aber genauso ein Problem und hat – weil es über die überlegenen Machtmittel eines Staates verfügt – sehr viel mehr Menschen auf dem Gewissen als Isis. Vielmehr stärkt der Aufstieg von Isis Assad, sowohl diplomatisch als auch militärisch. Für eine Beruhigung der Lage in Syrien müssten sowohl Isis und andere dschihadistische Gruppierungen geschlagen werden als auch das Assad-Regime müsste abtreten.
Stellt Isis eine Gefahr für Europa dar? Nach dem Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel am 24. Mai wurde bei dem französischen Tatverdächtigen eine Kalaschnikow gefunden, die in eine Isis-Flagge gehüllt war. Nach Angaben der belgischen Staatsanwaltschaft war er zuvor in Syrien.
Etwa 2.000 Europäer haben in den vergangenen drei Jahren in Syrien gekämpft. Sie sind fast alle zu den Dschihadisten gegangen, die meisten zu Isis. Deshalb müssen wir mit Wiederholungen der Vorkommnisse von Brüssel rechnen, aber auch mit größeren Anschlägen wie in Madrid 2004 und London 2005. Isis ist kein Ableger von al-Qaida, sondern will die gesamte dschihadistische Bewegung übernehmen. Baghdadi will Bin Laden beerben. Dafür muss er spektakuläre Anschläge im Westen verüben.