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Archiv-Artikel

Der Streit um Tonnen

482, 465 oder 453 Millionen: Das Kabinett scheitert an der Frage, wie viel Klimamüll die deutsche Industrie ausstoßen darf

AUS BERLIN JENS KÖNIG UND NICK REIMER

Ein Beobachter der gestrigen Kabinettssitzung beschrieb den Ablauf der Ministerrunde gegenüber der taz folgendermaßen: Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) stellt die Sachlage beim Klimaschutzinstrument Zertifikatehandel dar. Erstens der Beschluss des Bundeskabinetts: Im Juni hatte die Regierung den Zuteilungsplan für die Zertifikate gebilligt – regierungsdeutsch heißt er „Nationaler Allokationsplan II“, kurz NAP II. Er sah vor, der deutschen Industrie 482 Millionen Zertifikate zu schenken. Ein Zertifikat entspricht dem Recht, eine Tonne Klimamüll in die Atmosphäre zu blasen. Zweitens, so Gabriel: Im November wurde bekannt, dass die Industrie 2005 „nur“ 477 Millionen Tonnen Kohlendioxid verursacht hat. Daraufhin, so Gabriel gestern im Kabinett, hat er drittens neu gerechnet. Und dann Ende November Umweltkommissar Stavros Dimas per Brief eine neue Menge mitgeteilt: 465 Millionen Tonnen.

Daraufhin meldet sich Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU): Beschlusslage sind 482 Millionen Tonnen. Der Brief von Gabriel an den EU-Umweltkommissar ist nicht mit ihm abgestimmt. Die Belastung, die der deutschen Industrie durch den Vorstoß des Kollegen aufgebürdet wird, ist nicht hinnehmbar. Jetzt ergreift die Kanzlerin das Wort: Das Problem kann an diesem Tisch nicht behoben werden. Kurzerhand beruft sie eine Sitzung nach der Kabinettssitzung ein. Teilnehmer: Gabriel, Glos, die Kanzlerin selbst.

Selbstverständlich klingt die Darstellung der Kabinettssitzung aus dem Mund von Regierungssprecher Ulrich Wilhelm anders: „Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat das Kabinett über die Sachlage informiert“, so Wilhelm. Die Ministerien arbeiten „intensiv an einer Lösung“. Das Kanzleramt ist in diesen Prozess „eng eingebunden“. Nein, eine „Entscheidung im Kabinett gab es gestern nicht“. Ja, es stimmt: „Brüssel hat für einige Sachfragen eine Frist bis zum 31. Dezember 2006 gesetzt.“

Das ist ein entscheidender Link: Der „Nationale Allokationsplan II“ – ein hochkomplexes System, das die Spielregeln für den Handel mit Verschmutzungsrechten in der zweiten Handelsperiode von 2008 bis 2012 beschreibt – wird zwar vom Bundeskabinett erarbeitet; ob er etwas taugt, darüber befindet aber die EU. Umweltkommissar Stavros Dimas hatte Gabriels Zahlen glattweg abgelehnt. Nicht 465 Millionen Zertifikate, sondern nur 453 Millionen billigt der Grieche der deutschen Industrie zu. Termin: 31. Dezember.

Mengengerüste, Caps, geteilte Erfüllungsfaktoren – der NAP II stiftet einige Verwirrung. Gabriel hat einmal erklärt, es gebe nur zwei Menschen in Deutschland, die das System verstehen: „Der eine ist ausgewandert, der andere ist mein Abteilungsleiter.“ Tatsache ist, dass der Plan die Weichen dafür stellt, wie die Energieversorgung in den nächsten Jahrzehnten aussieht. Und wie viel der Klimaschutzkosten die Industrie auf die Normalbürger abwälzen kann. Schließlich entscheidet der Plan, ob die EU ihr Kioto-Ziel schafft. Und weil es um dieses schlecht bestellt ist, hat Dimas die Auflagen verschärft.

Der 31. Dezember steht. Wie geht es jetzt weiter, Herr Wilhelm? „Es wird keine weitere Kabinettssitzung in diesem Jahr mehr geben“, erklärt der Regierungssprecher. Die Zuständigkeit liege bei Bundesumweltminister Gabriel, „er wird diese bis 31. Dezember in enger Abstimmung mit Wirtschaftsminister Glos und Kanzlerin Merkel wahrnehmen“. Zahlen, Herr Wilhelm, Zahlen? Dem Regierungssprecher gelingt es nicht nur, einen Konflikt um Mengen wegzumoderieren – Zahlen muss er dafür erst recht keine nennen.

Aber vielleicht ist für Zahlen ja das Bundesumweltministerium zuständig. Offenbar nicht: Zwar werde das Thema im Haus als Chefsache behandelt, erklärte eine Sprecherin. Mehr sagen wollte sie der taz aber nicht.

Mehr sagte dagegen eine Sprecherin von EU-Umweltkommissar Stavros Dimas: „453 Millionen Tonnen, da gibt es nichts zu verhandeln“, erklärte sie gegenüber dem Tagesspiegel. Die Kommission erwarte von der Bundesregierung bis Jahresende einen nach Brüsseler Vorgaben überarbeiteten Plan über die Zuteilung von Verschmutzungsrechten.

Lauter allerdings wurde gestern die Position von Bundeswirtschaftsminister Glos – nicht die arme Industrie, sondern das Heer des Wahlvolkes zahlt den Klimaschutz – unterstützt: Die Spitzen großer Industriekonzerne warfen der Koalition „Vertrauensbruch“ vor – falls sie „vor Brüssel in die Knie geht“.

Und so sah die regierungsamtliche Klimapolitik Deutschlands gestern aus: Die Bundesregierung begrüßt die Pläne der EU-Kommission, auch die Luftfahrt zu einem geringeren Ausstoß von Treibhausgasen zu zwingen. Die Vorschläge aus Brüssel würden geprüft.