KANZLERIN IN DER KABINE
: Wir sind Merkel

LUKAS WALLRAFF

Oh, wie ist das schön. So was hat man lange nicht gesehen. Genauer gesagt: Seit dem 4:2 gegen Griechenland bei der EM 2012. Mit ihrem sicheren Gespür für sichere Siege erwischte Angela Merkel auch jetzt wieder eine deutsche Jubelorgie. Diesmal sogar 4:0, und das sogar gegen Cristiano Ronaldo, den Besten der Welt. Zum Ausscheiden im Achtelfinale gegen Russland darf dann die glücklose Drohne Thomas de Maizière einfliegen. Und der hat eh nichts mehr zu verlieren.

Aber Merkel. Chapeau! Öfter im Bild als Jogi Löw und dank Regierungssprecher Seibert auch sozialmedial dauerpräsent: In der Kabine, beim Selfie mit Poldi. Nur aufs gemeinsame Duschen wurde noch verzichtet. Aber sage keiner, das sei alles nur gespielt. Die Freude ist echt. Die Begeisterung ist echt. Sogar die Fachkenntnis ist mittlerweile echt. Und Merkel bleibt sich treu, also vorsichtig im Ungefähren wie immer: Vor dem Spiel auch auf Nachfrage kein Tipp: „Ich sage einfach, ich möchte, dass wir gewinnen.“ Doppelt geschickt: Keine Festlegung, kein Befehl, nur ein bescheiden vorgetragener Wunsch. So ist sie, und deshalb nimmt ihr niemand etwas übel. Jedenfalls in Schland. Dass mit Portugal schon wieder ein armes Eurokrisenland das Opfer war? Geschenkt – und wirklich Zufall.

Interessant ist eine andere Frage: Warum ist Fußball das einzige Thema überhaupt, bei dem Merkel öffentlich aus sich herausgeht, bei dem sie Emotionen zeigt, bei dem sie sich so deutlich sichtbar engagiert?

Was man sich doch auch – und viel dringender – wünschen würde: Eine Regierungschefin, die ebenso herzhaft wie Frank Schirrmacher die Überwachung problematisiert und die NSA angreift. Eine Kanzlerin, die den aufstrebenden Europagegnern von AfD bis Morgenröte mit einer großen Wutrede entgegentritt, wie es selbst Schlaftablette Steinmeier geschafft hat. Eine CDU-Chefin, die sich eindeutig wie Barack Obama für Homo-Rechte stark macht. Merkel beim CSD? Das wär’s. Oder eine „Klimakanzlerin“, die nicht klamm schweigt, sobald die Energiewende teuer zu werden droht, sondern eine, die den Deutschen wie Hermann Scheer herzglühend erklärt, dass sie, verdammt nochmal, ein paar Euro mehr für Strom bezahlen müssen, wenn sie keine Atomkraft, sondern eine Zukunft haben wollen.

Ja, all das wäre schön, aber nicht Konsens wie der Fußball, also riskant und deshalb nichts für die echte Merkel: eine angemessene Repräsentantin dieser Republik. Denn wohin gehen die Deutschen, treibt es sie auf die Straße? Zur Anti-NSA-Demo oder zu Fanmeilen? Wofür bleiben sie die halbe Nacht lang wach? Für eine Debatte über Energiepolitik im EU-Parlament oder für Ghana–USA?

Eben. Jeder bekommt, was er verdient: die Deutschen ihre Merkel. Und Merkel als einziges Bild im Geschichtsbuch respektive Wikipedia keinen Kniefall in Warschau, sondern ein Kabinenfoto in Salvador da Bahia.