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Archiv-Artikel

Schnell in die Welt

Dank Kaiserschnitt hat die Geburt viel von ihrem Schrecken verloren. Aus der Notoperation ist fast schon der Normalfall geworden – mit weitreichenden Konsequenzen für Mutter und Kind

von ANGELICA ENSEL

Heute Nachmittag haben wir das Baby, hatte der Chefarzt gesagt, als er morgens die Fruchtblase öffnete. Sieben Tage über dem Termin, jetzt geben wir ihm einen kleinen Anstoß, meinte er, und sie hatte auch keine Kraft mehr, zu warten. Viele Stunden hat sie jetzt schon Wehen, alles ist von ihr gefordert. Atmen, laufen, den Gang hoch und runter, noch einmal in die Wanne und dann wieder liegen. Der Wechsel ist es, hatte die Hebamme gesagt. Und zulassen solle sie die Schmerzen, nicht dagegen angehen. Sie ist tapfer, sagt ihr Liebster. Aber sie ist auf einem anderen Planeten, und der Weg ist noch lang. Fünf Zentimeter, es geht weiter, hat die Hebamme bei der letzten Untersuchung gesagt. Bis hierher haben sie es gut zu zweit geschafft, aber jetzt braucht sie die Fachfrau. Die soll nicht mehr weggehen. Einfach da sein soll sie, den Rücken massieren, ihr beim Atmen helfen, immer dasselbe sagen und ihr die Sicherheit geben, dass alles gut ausgeht. Doch die nette Hebamme schaut immer nur kurz rein, um die Aufzeichnungen der Herztöne zu kontrollieren, ein liebevoller Blick, aufmunternde Worte, und dann ist sie schon wieder weg. Ich brauche jemand, der mich führt, denkt sie. Sie sei zu angespannt, sagt der Chefarzt, als er gegen 15 Uhr zum Untersuchen kommt – kein Fortschritt, aber das Kind sei ja auch recht groß. In einer Stunde schauen wir noch mal, und wenn es dann nicht weitergegangen ist, sollten wir Sie nicht länger quälen, meint er.

Wollen wir sie nicht erlösen?, fragt er draußen die Hebamme, die weiß, dass der Chef jetzt eigentlich nicht mehr in der Klinik sein will. Wie gerne wäre sie bei der Frau – einfach bei ihr sitzen, den Rücken massieren und vermitteln, dass sie loslassen darf. Aber da sind zu viele Aufgaben, die alle noch nebenbei erledigt werden müssen. Und zu allem Unglück ist da auch noch der geplante Wunschkaiserschnitt, der eigentlich für morgen angesetzt war. Aber nun ist die Frau mit Wehen gekommen, und der OP hat schon signalisiert, dass das nun bald über die Bühne gehen soll. Dann werden es heute wohl wieder zwei Kaiserschnitte hintereinander …

Weltweit steigen die Kaiserschnittraten. Auch Deutschland ist diesbezüglich keine Ausnahme: Während 1993 hierzulande bei 16,9 Prozent aller Geburten ein Kaiserschnitt durchgeführt wurde, liegt die Rate heute bei 27 Prozent. Nicht wenige deutsche Kliniken weisen eine Kaiserschnittfrequenz von bis zu 50 Prozent auf. Während die WHO empfiehlt, die Kaiserschnittrate solle 10 bis 15 Prozent nicht übersteigen, bewegt sich die weltweite Frequenz im Bereich zwischen 10 und 40 Prozent – in Brasilien sind es sogar 80 Prozent.

Deutsche Kliniken werben – auch unter der immer stärker werdenden Konkurrenz um die Gebärenden – mit dem Wunschkaiserschnitt als Alternative zur Normalgeburt; auch die Indikation für den Kaiserschnitt im Verlauf der Geburt wird immer häufiger attestiert. Zugleich wird über die Folgen der Operation für die betroffenen Frauen und Kinder kaum je gesprochen. Dabei sind die wenigsten Kaiserschnitte primär von den Frauen gewünscht, wie eine kürzlich von der Gmünder Ersatzkasse (GEK) veröffentlichte Studie belegt.

Komplexe Ursachen

Der immens angestiegenen Kaiserschnittrate liegt ein komplexes Ursachenbündel aus technologischen, forensischen, finanziellen und psychosozialen Faktoren zugrunde. Beate Schücking, Gesundheitswissenschaftlerin im Fachbereich Gesundheits- und Krankheitslehre mit Schwerpunkt Maternal Health an der Universität Osnabrück, sieht das Phänomen als Folge der immer weiter zunehmenden Technisierung der klinischen Geburtshilfe und der Einführung des Risikobegriffs in die physiologischen Vorgänge um Schwangerschaft und Geburt.

Mehr Überwachung bedeutet jedoch nicht unbedingt mehr Gesundheit. Während die Müttersterblichkeit in den letzten Jahrzehnten in Deutschland drastisch verringert werden konnte, hatte die enorme Zunahme der Kaiserschnitte keine Auswirkungen auf die Kindersterberate bei der Geburt; sie ist nicht weiter gesunken. Als Folge der zunehmenden Technisierung der normalen Geburt in den letzten Jahrzehnten wurden jedoch geburtshilfliche Eingriffe, die eigentlich im Zusammenhang mit Komplikationen erfolgen sollten, zur Routine bei der Betreuung der normalen Geburt.

Eine derart technisierte Geburtshilfe birgt die Gefahr, dass schon geringe Normabweichungen pathologisiert werden und Interventionen wie Geburtseinleitung, Wehenmittelgabe und operative Geburtsbeendigung nach sich ziehen. Das zeigt die Auswertung der Daten aus der niedersächsischen Perinatalstatistik der Jahre 1984 bis 1999. Sie kommt zu dem erschreckenden Ergebnis, dass nur sieben Prozent aller Frauen, die eine vaginale Entbindung anstreben, ihre Kinder ganz ohne Interventionen gebären.

Verändert hat sich aber nicht nur die Einstellung der ExpertInnen, die großzügig Indikationen für geburtshilfliche Eingriffen bis hin zum Kaiserschnitt attestieren, sondern auch das Verhalten der Gebärenden. Heute kommen die Frauen früher und mit einem geburtshilflich unreiferen Befund in die Klinik – eine Tatsache, die wiederum Interventionen wahrscheinlicher macht. Die Daten zeigen: Je später im Verlauf der Geburt eine Frau in die Klinik geht, desto seltener erfolgen Eingriffe in den natürlichen Geburtsverlauf.

Prävention und Defensivmedizin

Aus medizinischer Perspektive hat der Kaiserschnitt, der früher als Notfallmaßnahme galt, heute zunehmend präventiven Charakter. Neue Techniken der Operation, schonendere Anästhesieverfahren und bessere Möglichkeiten der Infektionsprophylaxe haben dazu geführt, dass die Risiken der Operation heute für Mutter und Kind als gering eingeschätzt werden. Infolgedessen ist die Zurückhaltung gegenüber dieser Maßnahme enorm gesunken. Mehr und mehr werden sogenannte relative Indikationen wie Angst vor Geburtsschmerz, pathologische kindliche Herztöne und ein verlängerter Geburtsverlauf als Gründe für einen Kaiserschnitt angeführt.

Dazu beigetragen haben in nicht unerheblichem Maße forensische Gründe. Die Hemmschwelle der Eltern, zu klagen und Schäden bei Mutter und Kind auf mangelnde Überwachung bei der Geburt zurückzuführen und darauf, dass kein Kaiserschnitt gemacht wurde, ist stark gesunken. Aufseiten der Geburtshelfer ist die berechtigte Angst vor Regressansprüchen eine zentrale Motivation. Geburtshilfe gilt heute bei Versicherungsgesellschaften als Hochrisikomedizin mit den teuersten Schadensfällen. Das führt dazu, dass Geburtshelfer im Zweifelsfall zum Selbstschutz den Kaiserschnitt als „defensive“ Maßnahme vorziehen. Werdende Eltern wiederum haben heute ein wesentlich größeres Sicherheits- und Kontrollbedürfnis. Dabei spielt unter anderem das höhere Lebensalter der Gebärenden eine Rolle: Die meisten Kinder werden heute von Frauen zwischen 30 und 37 Jahren geboren. Auch die zunehmende Zahl von Schwangerschaften, die durch Reproduktionsmedizin entstehen, trägt dazu bei, dass Eltern und Gynäkologinnen eine spontane Geburt als Risiko empfinden.

Die steigende Kaiserschnittrate führt dazu, dass geburtshilfliches Wissen und Erfahrung verlorengehen. Bei einer Geburtshilfe, die den schnellen Schnitt zur schnellen Lösung der Probleme vorzieht, lernen junge AssistenzärztInnen und Hebammen nicht mehr die über Jahrhunderte propagierte Kunst des achtsamen Abwartens, die zunächst einmal von einem normalen physiologischen Verlauf ausgeht und jede Intervention in den natürlichen Ablauf möglichst vermeidet. Ebenso werden bestimmte Techniken – etwa die Entbindung eines Babys aus der Steißlage – gar nicht mehr erlernt. Heute wird in dieser Situation in 90 Prozent der Fälle ein Kaiserschnitt durchgeführt. Manche Kliniken informieren die Frauen nicht einmal mehr über die Möglichkeit einer Spontangeburt, wenn ihr Kind in Steißlage liegt.

30 Minuten pro Operation

Auch systembedingte finanzielle Aspekte haben einen erheblichen Anteil an der gestiegenen Kaiserschnittrate. Während eine normale Geburt mit einer Dauer von durchschnittlich 8 bis 12 Stunden die Bereithaltung einer großen Zahl von Personal rund um die Uhr erfordert, können die OP-Kapazitäten bei geplanten Kaiserschnitten und einer Dauer von jeweils 30 Minuten pro Operation effektiv ausgenutzt werden. Für einen Kaiserschnitt erhält eine Klinik von den Krankenkassen 78 Prozent mehr Geld als für den im Verhältnis weitaus größeren Zeitaufwand einer normalen Geburt. Die Kassen stehen dieser Problematik bisher noch machtlos gegenüber. Zwar dürfen die Kosten für einen Kaiserschnitt nur übernommen werden, wenn dieser medizinisch begründet ist, doch aus den Abrechnungsdaten ist die Konstellation eines Wunschkaiserschnitts kaum ersichtlich, zumal sich aus der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (2004) ausreichend „relative Indikationen“ zur medizinischen Begründung ergeben.

Da die Betreuung einer Geburt nach einem Kaiserschnitt aufgrund des größeren Risikos einen höheren personellen Betreuungsaufwand erfordert, bieten viele Kliniken die Möglichkeit einer vaginalen Geburt nach einem Kaiserschnitt gar nicht mehr an. Belohnt wird in unserem Gesundheitssystem nicht mehr die Kunst geburtshilflicher ExpertInnen, die ihre Aufgabe darin sehen, einen physiologischen Prozess bestmöglich zu begleiten, sondern die Pathologisierung eines eigentlich natürlichen Vorgangs. Bei immer größerem Wettbewerbsdruck sehen sich Chefärzte nicht selten in der Situation, dass sie von der Geschäftsführung ihrer Kliniken – teilweise unter Androhung von Kündigungen – unter Druck gesetzt werden, die Kaiserschnittrate zu steigern. Dies geschieht dann nicht zuletzt auch mit Hilfe von Werbung für den Wunschkaiserschnitt, den Kaiserschnitt ohne medizinische Indikation.

Wunsch der Frauen?

Aber ist wirklich der Wunsch der Frauen für die hohe Kaiserschnittrate verantwortlich, wie die Medien und zum Teil auch die wissenschaftlichen Diskussionen suggerieren? Die Schwangere, die (von den Kliniken als Kundin begehrt) ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnimmt und den Kaiserschnitt wählt, ist in erster Linie eine Konstruktion der Medien. Internationale Studien, so Beate Schücking, fokussieren andere Aspekte der Problematik. Diese Untersuchungen kommen zu Ergebnissen zwischen 4 und 15 Prozent für den Wunsch nach einem Kaiserschnitt, wobei sich ein deutlicher Unterschied zwischen Erst- und Mehrfachgebärenden erkennen lässt. Insgesamt zeigt sich, dass ein eher geringerer Anteil von Frauen – und hier insbesondere von Erstgebärenden – einen Kaiserschnitt wünscht. Die Mehrzahl der Frauen favorisiert eine normale Geburt.

Das ist auch ein Ergebnis der im April 2006 veröffentlichten GEK-Kaiserschnittstudie, durchgeführt vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen. Im Sommer 2005 wurden 2.800 bei der GEK versicherte Frauen, die im Vorjahr einen Kaiserschnitt hatten, nach ihren Erfahrungen, Entscheidungswegen sowie den subjektiv empfundenen Vor- und Nachteilen dieses Geburtsmodus befragt. 87 Prozent der Befragten bevorzugen eine normale Geburt. Nur 2 Prozent gaben keinen medizinischen Grund für den Kaiserschnitt an, sondern betonten Gründe wie die bessere Planbarkeit und Angst vor Wehenschmerzen. Bei der Entscheidung für einen geplanten Kaiserschnitt war die medizinisch begründete Empfehlung durch Arzt oder Ärztin ausschlaggebend für die Frauen.

Eine von Claudia Helmers, Universität Osnabrück, durchgeführte Studie zum Kaiserschnittwunsch gibt Aufschluss über Einstellung und Motivation der Frauen, die einen primären Kaiserschnitt wünschen. Ängste vor Schmerzen und Verletzungen, traumatische vorausgegangene Geburtserfahrungen, der Wunsch nach einer schnellen Geburt und einem festgelegten Geburtstermin sind hier die häufigsten Begründungen. Frauen mit depressiven Symptomen oder anderen Belastungen wie vorausgegangener Fehlgeburt, alleinstehende Frauen und Raucherinnen haben häufiger den Wunsch nach einem Kaiserschnitt. Insgesamt handele es sich hier um eine Gruppe von Frauen, die verletzlicher sind und einen geringeren Sinn für das Gefühl von Selbstbestimmtheit haben, sagt Beate Schücking und kommt zu dem Ergebnis, dass der Wunsch nach einem Kaiserschnitt meist angstbestimmt ist.

Ein wichtiger Faktor, der die grundlegende Ängstlichkeit entscheidend mitbestimmt, ist das deutsche System der Schwangerenvorsorge, das über 70 Prozent der Frauen als Risikoschwangere einstuft – eine Tatsache, die dazu beiträgt, dass der Kaiserschnitt als Alternative zur normalen Geburt ein Thema für Frauen wird. Eine klinische Geburtshilfe, die mentale Probleme häufig mit medizinischen Maßnahmen behandelt, verstärkt die Bereitschaft der Frauen, den Kaiserschnitt als Lösung anzusehen. Dies wirft, so Schücking, auch die Frage auf, inwieweit bei der ärztlichen Aufklärung eine informierte Zustimmung (informed consent) angestrebt wird, die diesen Namen überhaupt verdiene. Die Nachteile des Kaiserschnitts nämlich werden in Deutschland kaum diskutiert, auch evidenzbasierte Leitlinien für die Indikation für den Kaiserschnitt gibt es bei uns nicht.

Risiken für Mutter und Kind

Auch wenn die Sterblichkeitsrate bei einem Kaiserschnitt in westlichen Ländern verschwindend gering ist, ist die Operation mit einem um den Faktor 3 erhöhten Sterblichkeitsrisiko für die Entbindende verbunden. Auf die Dauer werden die Todesfälle nach Kaiserschnitt ebenso wie die negativen Auswirkungen auf die Folgeschwangerschaften zunehmen, prognostiziert Schücking, und dies werde sich dann auch auf die öffentliche und interdisziplinäre Diskussion auswirken.

Das Risiko einer nachgeburtlichen Erkrankung ist für Mütter, die einen Kaiserschnitt hinter sich haben, um den Faktor 10 erhöht. Hierzu gehören Verletzungen von Gebärmutter, Blase und Harnwegen, Gebärmutterentzündungen, Wundheilungsstörungen, Thromboembolien und mögliche Folgeeingriffe aufgrund von Komplikationen. Dazu kommen ein verlängerter Klinikaufenthalt, postoperative Schmerzen ebenso wie die Erschwernis des Bonding, der ersten intensiven Kontaktaufnahme zwischen Mutter und Kind, sowie Einschränkungen der Beweglichkeit, die die Versorgung des Kindes erschweren.

Während den Frauen die unmittelbaren Folgen nach einer medizinischen Aufklärung mehr oder weniger bewusst sind, werden ihnen die Auswirkungen eines Kaiserschnitts auf folgende Schwangerschaften kaum deutlich und umfassend vor Augen geführt. Hierzu gehören das um 30 bis 60 Prozent höhere Risiko einer regelwidrigen Einnistung der Nachgeburt, die zu erheblichen Blutungen und Lebensgefahr für Mutter und Kind führen kann, das doppelt so große Risiko einer Totgeburt und eine eingeschränkte Fruchtbarkeit.

Auch für das Neugeborene hat der Kaiserschnitt nicht unerhebliche Folgen. Die schnelle Geburt ist für das Kind keineswegs der sanfte Weg ins Leben, sondern aufgrund der abrupten Veränderung der Druckverhältnisse und des Fehlens von physiologischem Geburtsstress viel häufiger als bei einer normalen Geburt mit Atem- und Anpassungsstörungen verbunden. Auch fehlen Mutter und Kind, die bei einer normalen Geburt im Stoffwechsel der Mutter freigesetzten Endorphine, die für Glücksgefühle nach durchstandenen Schmerzen sorgen und die auch das Baby wach und aufmerksam machen und den lebenswichtigen Prozess des Bonding entscheidend unterstützen.

Wunden an Leib und Seele

Viele Frauen fühlen sich nach einem Kaiserschnitt – insbesondere, wenn er nicht geplant war – verletzt und leiden unter den körperlichen und seelischen Folgen. „Entsprechend groß“, sagt die Düsseldorfer Ärztin Katrin Mikolitch, „ist der Beratungsbedarf. Aber es gibt auch effektive Heilungswege, und es ist wichtig, diese bekanntzumachen.“ Das von ihr gegründete „Netzwerk Kaiserschnitt“ (kaiserschnitt-netzwerk.de) bietet Hilfe und Selbsthilfe für Frauen nach einem Kaiserschnitt und veranstaltete im Juni 2006 erstmals einen Kongress zu dem Thema.

Für Mutter und Kind hat ein nicht verarbeiteter Kaiserschnitt zahlreiche körperliche und psychische Folgen. Oft sind die Gefühle der Frauen zu ihrem Kaiserschnitt ambivalent, sagt die Hebamme Brigitte Meissner, die seit vielen Jahren Frauen mit körperlichen und psychischen postoperativen Beschwerden betreut. Einerseits ist da das Gefühl, dass der Schnitt sie und das Kind gerettet hat, auf der anderen Seite stehen Gefühle von Verletzung, Ausgeliefertsein und Versagen. Dass viele Frauen sich nicht erlauben, über ihre als enttäuschend erlebte Geburt zu sprechen, verstärkt die Ambivalenz. Die Unterdrückung der Gefühle raubt Kräfte, die die Frau gerade jetzt braucht. Das wirkt sich auch auf das Baby aus, das, so Meissner, „für die Mutter weint“. Gehäuft findet sich bei Kaiserschnittbabys untröstliches Weinen.

Auch Stillprobleme und die Folgen von Antibiotikagaben belasten die Mutter-Kind-Beziehung. Die Mütter können infolge der rückenmarksnahen Anästhesie (PDA) unter Kopf- und Rückenschmerzen leiden, aber auch unter Narbenbeschwerden, Schwierigkeiten bei der Aufnahme der Beziehung zum Baby sowie unter Wut-, Schuld- und Versagensgefühlen. Auch Angst vor einer nächsten Geburt und sexuelle Lustlosigkeit beeinträchtigen die Lebensqualität. Dazu kommen Spätfolgen wie das Ausbleiben einer nächsten Schwangerschaft aufgrund erhöhter sekundärer Sterilität.

Nicht der Kaiserschnitt an sich muss von einer Gebärenden traumatisch erlebt werden. Jede Geburt hat Folgen und ist so individuell wie die Frau, die gebärt, und das Baby, das geboren wird. Grundlegend für ein traumatisierendes Erleben des Kaiserschnitts ist das Gefühl, keine Kontrolle über die Situation gehabt zu haben. Daraus entstehen Gefühle von Ohnmacht, von Ausgeliefert- und Opfersein. Immense Bedeutung für das Erleben und die Bewertung des Kaiserschnitts hat das begleitende Personal. Es kann entscheidend dazu beitragen, dass Traumatisierungen verhindert werden, oder aber verheerende Wirkungen auslösen. „Lieblose Gesten, die in hilfloser, ohnmächtiger Situation erlebt werden, wenn es keine Möglichkeit der Abgrenzung gibt, reaktivieren in unserer Psyche alle Momente ohnmächtiger Hilflosigkeit“, warnt Meissner. Bei Frauen, die bereits traumatisiert waren, kann das Gefühl der Unfreiwilligkeit alte Ohnmachtsgefühle reaktivieren. Ebenso kann ein traumatisch erlebter und nicht verarbeiteter Kaiserschnitt zum Trigger bei weiteren Erfahrungen von Hilflosigkeit werden und das Trauma reaktivieren.

Heilungswege

Seit vielen Jahren entwickelt Meissner Heilungswege und Verarbeitungsmöglichkeiten nach einem Kaiserschnitt. Liebevolles Halten und Tragen und craniosakrale Osteopathie sprechen unterschiedliche körperliche und psychische Ebenen beim Baby an. Bei der Mutter sind Homöopathie, spezielle Narbenpflege, Akupunktur und der Aufbau des Immunsystems hilfreich. Besonders wirksam sind Rituale, die eine neue, heilende Dimension in das Erleben bringen wie das Babybaderitual, bei dem das Kind noch einmal ins Wasser und nass auf die Brust der Mutter gelegt wird, oder das „Narbenritual“, bei dem der Partner die Narbe massiert.

Erfahrungen während des Geburtsverlaufs werden auf neuronaler, muskulärer und zellulärer Ebene gespeichert, sagt die Körpertherapeutin Daniele Reihwald. Entsprechend kann ein Kaiserschnitt als Schock und innere Erstarrung erlebt werden und körperliche und psychische Folgen haben für die kindliche Wahrnehmung, für Lernen und Verhalten, etwa Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperaktivität oder ein Gefühl von Grenzenlosigkeit. Über die sanfte Methode des körperlich-seelischen Ausbalancierens durch Body-Mind-Centering können bei Mutter und Baby Blockaden gelöst werden.

Ohne ein gutes Verhältnis zu sich selbst kann es keine gelungene Beziehung zum anderen geben – das gilt auch für Mutter und Kind nach einem Kaiserschnitt. Auf dieser Grundlage arbeitet die auf perinatale Psychologie spezialisierte Therapeutin Ilka Maria Thurmann, die Regressionstherapie und Körperarbeit für Kinder und Erwachsene – oft nach vielen anderen vergeblichen Therapieversuchen – anbietet. Babys, deren System noch sehr lernfähig ist, benötigen oft nur zwei Behandlungen, nach denen die Mütter große Veränderungen etwa in Bezug auf Schrei- und Schlafverhalten feststellen. Bei Erwachsenen führt die Regressionstherapie noch einmal sanft zum traumatischen Erleben zurück. Durch die Körperarbeit löst sich das „Eingefrorensein“, und es entstehen neue Muster (repatterning), die andere Erfahrungsebenen eröffnen.

Väter und Kaiserschnitt

Inwieweit die Partner einen Anteil an der Entscheidung für den Kaiserschnitt haben und wie stark ein Kaiserschnitt das Familiensystem prägen kann, ist ein bisher vernachlässigtes, aber keineswegs unbedeutsames Thema. Eigene Ängste, die Angst um Frau und Kind oder auch das Nichteinbezogensein in Geburtsvorbereitungskurse und ins Geburtsgeschehen können Gründe dafür sein, dass Männer einen Kaiserschnitt bevorzugen. Der französische Geburtshelfer Michel Odent weist darauf hin, dass die Kaiserschnittraten gestiegen sind, seitdem die Partner verstärkt im Kreißsaal anwesend sind. Nach seiner These trägt die Anwesenheit der Väter zur weiteren Technologisierung und Medikalisierung bei. Männer würden dazu neigen, das Geburtsgeschehen eher rational zu sehen, und diese Sicht auch auf ihre Partnerinnen übertragen, meint Odent – eine für viele Frauen und Hebammen sicherlich provokative These, die noch nicht wissenschaftlich belegt wurde.

Aus Hebammensicht ist nicht die Anwesenheit der Väter, sondern vielmehr der Mangel an kontinuierlicher Begleitung durch die Hebammen eine zentrale Ursache für die Zunahme technologisierter Geburten. Zunehmender Personalmangel und die Verdichtung der Arbeit durch Bürokratisierung und Organisation führen dazu, dass die Partner eine zentrale Rolle bei der Geburtsbegleitung und so auch bei der Entscheidungsfindung übernehmen. Das Gefühl, durch diese Verantwortung überfordert zu sein, kann dazu führen, dass Männer etwa bei einer langen und schwierigen Geburt oder sehr großen Schmerzen ihrer Partnerin zu einer „technischen“ Lösung neigen. Umgekehrt wird die Geburt durch Kaiserschnitt von den Partnern im Nachhinein oft nicht so gewürdigt, worunter die Frauen leiden. Immer wieder miteinander sprechen und nicht an der Sexualität zu „arbeiten“, empfiehlt die Psychologin Christiane Windhausen. Ein schönes und hilfreiches Ritual nach der Geburt eines Kindes kann es sein, wenn die Partner ihr einander gegebenes Jawort erneuern.

„Jede Geburt ist auch ein Spiegel der eigenen Lebensgeschichte“, sagt Katrin Mikolitch, die seit vielen Jahren Frauen nach Kaiserschnitt naturheilkundlich und psychologisch betreut. Bei ihrer Behandlung versucht die Ärztin, das traumatische Erlebnis immer auch vor dem Hintergrund der jeweiligen Lebensgeschichte einer Frau zu sehen. Oft gibt es Bezüge zur eigenen Geburt, zu einer Erfahrung von Missbrauch oder zum Umgang mit Schmerzen und Gefühlen überhaupt. Basis ihres Therapieansatzes ist ein wertschätzender und konstruktiver Umgang mit der schmerzlichen Erfahrung. Die Frage: „Welches Potenzial, welches Geschenk liegt in meiner Kaiserschnitterfahrung?“, hilft, den Blick für neue Erfahrungen und Wege zu öffnen. Neben der Einzelbehandlung bietet Mikolitch Gesprächskreise, Gruppen- und Tagesseminare für Frauen nach einem Kaiserschnitt an. „Im Innern wissen viele Frauen sehr genau, was sie brauchen, und wenn sie das wissen, kann wirklich Heilung geschehen“, sagt die Ärztin. Wenn eine Frau weitere oder andere Therapien benötigt, wird sie innerhalb des Netzwerks weitergeleitet.

Die normale Geburt fördern

Eine zentrale Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit dem Steigen der Kaiserschnittrate und seinen Ursachen ist die Förderung der Physiologie und der Kompetenz von schwangeren und gebärenden Frauen. Hebammenhilfe und -begleitung haben hierbei zentrale Bedeutung. Das zeigen die guten Ergebnisse der außerklinischen Geburtshilfe. Frauen, die eine außerklinische Geburt anstreben, haben wesentlich größere Chancen, eine normale Geburt zu erleben, als jene, die sich für eine interventionsreiche klinische Geburt entscheiden. Das belegen die Daten der Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe (QUAG e. V.), die die Ergebnisse der Geburten auswertet, die nicht in Kliniken stattfinden.

Nur bei zehn Prozent der Frauen, die eine außerklinische Geburt wollten, kam es zu einem Kaiserschnitt. Bei Frauen, die während der Geburt in die Klinik verlegt wurden, wurden nicht mehr Interventionen vorgenommen als bei Frauen, die von vornherein in die Klinik gingen. Diese guten Ergebnisse verdeutlichen, dass die Förderung der außerklinischen Geburtshilfe ein wichtiger Schritt zur Förderung der normalen Geburt ist. Die kontinuierliche Begleitung durch eine Hebamme trägt wesentlich dazu bei, dass Schwangerschaft und Geburt physiologisch verlaufen.

Hebammenbetreuung – das ist auch das Ergebnis einer Studie der WHO – geht mit geringen Interventionen einher. In Gesundheitssystemen, in denen Schwangere unter dem entscheidenden Einfluss von Ärzten stehen und Hebammen eine randständige Position einnehmen (wie in den USA und Brasilien), sind hohe Interventionsraten und Kaiserschnittquoten zu finden. In Gesundheitssystemen, in denen die Grundversorgung gesunder Schwangerer in den Händen von Hebammen liegt (wie in den Niederlanden, in Skandinavien und Neuseeland), gibt es weit weniger Risikoschwangerschaften und -geburten, und die Interventionsraten sind niedrig bei gleichzeitig guter Gesundheit des Kinder. Wir brauchen mehr Forschung zur normalen Geburt, fordert auch Beate Schücking, denn der größte Teil der Studien befasst sich mit der Pathologie – und kaum mit der normalen Geburt und ihrem Spektrum.

Literatur: Theresia Maria De Jong, Gabriele Kemmler: „Kaiserschnitt: Wie Narben an Leib und Seele heilen können“. München 2003. Brigitte Meissner: „Kaiserschnitt und Kaiserschnittmütter“. BM-Verlag, Schweiz 2002. Michel Odent: „Es ist nicht egal, wie wir geboren werden. Risiko Kaiserschnitt“. Düsseldorf und Zürich 2005. Ilka Maria Thurmann: „Bach-Blüten in der Geburtshilfe“. Frankfurt a. M. 2006ANGELICA ENSEL, 51, Ethnologin, Journalistin und Hebamme, lebt in Hamburg. Heiligabend 2004 sprach sie im taz.mag mit Eva Schneider über deren gestickte Ultraschallkunst