piwik no script img

Archiv-Artikel

Die romantischen Visionen der Eheleute Bossard

KUNSTTEMPEL Das Künstlerpaar Johann Michael und Jutta Bossard schuf in 40-jähriger Detailarbeit ein skurril-sehenswertes Gesamtkunstwerk inmitten der Nordheide. Heute ist das drei Hektar große Grundstück eine öffentliche Kunststätte

VON BIRK GRÜLING

Ein Gesamtkunstwerk ist laut Definition ein Werk, in dem verschiedene Künste zusammenfließen. Der Komponist Richard Wagner hat viel zur Idee eines Gesamtkunstwerks in Bezug auf die Oper gesagt. Die Kunststätte Bossard in der Nordheide kommt ohne Musik aus, aber die Europäische Union hat sie trotzdem als „Gesamtkunstwerk“ mit dem „Europa-Nostra-Preis“ ausgezeichnet. Das war vor zwei Jahren.

Die Anfänge der Kunststätte Bossard aber liegen über 100 Jahre zurück. Der Hamburger Kunstprofessor Johann Michael Bossard kaufte zusammen mit seiner Frau Jutta das 30.000 Quadratmeter große Grundstück bei Jesteburg 1911 als eine Art ausufernde Staffelei für seine Visionen. Bossard hatte den Ort bei einem Ausflug mit Freunden entdeckt und sich spontan in ihn verliebt. Durch Auftragsarbeiten für Privatleute und den öffentlichen Raum war der Schweizer zu Geld und einer gut bezahlten Professur an der Kunstgewerbeschule in Hamburg gekommen. Dort lehrte er klassische Bildhauerei.

Als Anhänger einer etwas verschrobenen Naturromantik verstand er sein neues Reich als idealtypischen Rückzugsort von der großstädtischen Hektik. Mit 30 Minuten war der Weg nach Hamburg nicht zu weit. Seine Vision: Kunst, Natur und Lebensweise sollten hier in Einklang gebracht werden. Für sehnsüchtige Heidewanderer wollte Johann Michael Bossard eine „schönheitliche Quelle und einen Ort der inneren Einkehr schaffen“, wie er 1925 schrieb.

Der heutige Besucher spürt den tiefen Wunsch nach Einkehr schon bei der Anfahrt. Die letzten Kilometer führen vorbei an Feldern und enden auf schottrigem Waldweg. Dann sind die hohen Gebäude der heutigen Kunststätte Bossard zu sehen. Nach dem Tod von Jutta Bossard wurde das Werke des Ehepaars aufwändig restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich macht. Der Originalzustand ist dabei erhalten geblieben. Wie zu Lebzeiten versperrt üppiges Grün den ersten, neugierigen Blick auf das Gelände. Eine Allee aus Skulpturen führt vom Tor hoch zum Atelierhaus im nachgeahmten Heide-Stil gleich neben dem sakral-expressionistischen Kunsttempel.

Im Süden schmiegt sich Heidelandschaft an die Kunststätte. Bossard und seine Frau, ebenfalls Künstlerin und seine ehemalige Studentin, träumten von einem Leben als Selbstversorger nahe der Natur. Im Norden ragen Dutzende Fichten in den Himmel und bilden auf grünem Rasen ein gepflanztes Omega. Über griechische Buchstaben aus Fichten-Hainen wundert sich der Besucher nur kurz. Die Aufmerksamkeitsalternativen sind zu vielfältig. Von den Hauswänden blicken götzenhafte Figuren. Verzerrte Heiligenbilder gefangen in rotem Backstein, bunte Fenster, unzählige Skulpturen – jeder noch so kleine Vorsprung dient als Leinwand.

Nach wenigen Minuten wandelt sich der erste Eindruck: Die Kunststätte erzeugt nicht ein Gefühl der Einkehr, sie wirkt eher erschlagend aufgrund der Monomentalität der Bossardschen Kunst. Architektonisch erinnert das Gebäude an eine altgotische Kirche. Durch die bunten Glasfenster fällt Licht auf den farbintensiven, dreiteiligen Tempelzyklus, der sich mit positiven und negativen Seiten des menschlichen Daseins beschäftigt. Es geht um den Zeugungsakt, um Tod und Vergänglichkeit, dargestellt in idealtypischen Lichtgestalten.

Im saalhaften Atelier des Wohnhauses setzt sich das dreiteilige Bild fort. Über ein paar Stufen gelangt man von hier aus in die privaten Räume. Nicht einmal vor ihnen macht das Gestaltungsbedürfnis des Künstlerpaares halt. Im Musikzimmer, diesem fast vergessenen Fetisch des Bildungsbürgertums, blicken Geistesgrößen wie Goethe und Schopenhauer von der Holzvertäfelung hinab auf die Ornamente des Klaviers.

Das Märchenzimmer, ein Stockwerk höher, zeigt leuchtend gelb mythisch verklärte Gestalten aus Grimms Märchen. Nur wenig Sonne fällt durch die bemalten Fenster. Das schummrige Licht verstärkt die etwas beklemmende Wirkung der Wohnkunst. Das bemalte Geschirr zeugt von der Akribie, mit der hier über 40 Jahre an einem Gesamtkunstwerk gearbeitet wurde.

Die Forscher stehen bei der kunsthistorischen Aufarbeitung noch am Anfang: Bossard ließ keine Fläche ungenutzt. Zudem bleiben die Visionen und Anspielungen des Künstlers auch dem fachkundigen Betrachter oft verborgen. So faszinierte den gebürtigen Schweizer offensichtlich die nordische Mythologie. Nach einer Scharlacherkrankung im Kindesalter war er selbst auf einem Auge blind, für ihn eine Parallele zum Götterkönig Odin.

Solche Inspirationen vermischen sich mit allerlei Zeichen der Weltreligionen, Götzenhaftem und Zahlensymbolik. Stilistisch finden sich Elemente des idealisierenden Jugendstils, des Symbolismus und des aufkommenden Expressionismus in Bossards Werk.

Für den Besuch der Kunststätte sind solche kunsthistorischen Einordnungen zum Glück nicht notwendig. In der Sommersonne können die Besucher staunend durch diesen surrealen Ort wandern. Im neuen Atelier gibt es eine Dauerausstellung zum Leben und Werk der Bossards und wechselnde Sonderausstellungen von anderen Künstlern.

Noch ein Tipp: Wer nach der Kunst erschöpft ist, sollte im Café einkehren. Dort gibt es hausgemachten Kuchen, ganz klassisch und ohne expressionistischen Anspruch. Das Café ist aber nur an den Wochenenden geöffnet.

Öffnungszeiten im Sommer: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr; Eintritt: 7 Euro (ermäßigt: 3,50 Euro); Besucher unter 18 Jahren frei