: Das Ende immer mitdenken
Akribisch recherchiert und mitreißend geschrieben: Regina Scheer zeichnet in ihrer Biografie der jüdischen Familie Liebermann 200 Jahre Berliner Geschichte nach
Links neben dem Brandenburger Tor steht seit ein paar Jahren wieder das Liebermann-Haus. Es war einmal eine berühmte Berliner Adresse, denn hier lebte der Maler Max Liebermann, deutscher Impressionist, Präsident der Preußischen Akademie der Künste und Wegbereiter der modernen Kunst in diesem Land. Kaiser Wilhelm II., der am anderen Ende der Linden residierte, wetterte gegen diese „Rinnsteinkunst“ und verzieh Liebermann nie, dass er die Deutungshoheit über die Frage, was Kunst in Deutschland ist, an ihn verloren hatte.
Zumindest bis die Nazis kamen. Deren Fackelzug am 31. Januar 1933 beobachtete Liebermann durch sein Fenster und tätigte danach den legendären Ausspruch, gar nicht so viel fressen zu können, wie er kotzen müsse. Zwei Jahre später starb er verbittert. Seine Witwe Martha wurde sukzessive entrechtet und enteignet. Im März 1943 nahm sie sich das Leben, um der Deportation zu entgehen. Damit endete die 200-jährige Geschichte der Liebermanns in Berlin – zu der auch AEG-Gründer Emil Rathenau, ein Cousin Max Liebermanns, und sein Sohn Walter gehörten, dessen Ermordung durch Rechtsradikale 1922 zum Fanal wurde.
In einer ebenso akribisch recherchierten wie mitreißend geschriebenen Familienbiografie blättert die Berliner Schriftstellerin Regina Scheer auf vierhundert Seiten noch einmal das Panorama eines untergegangenen Stücks Berliner Kultur- und Stadtgeschichte auf. Sie erzählt voll Anteilnahme, tiefer Menschenkenntnis und feinem Gespür für jüdische Lebenswelten die Geschichte einer erstaunlichen Familie, die durch und durch preußisch war und doch ihre jüdischen Wurzeln niemals kappte – im Gegensatz zur anderen exemplarischen deutschjüdischen Dynastie, den Mendelssohns. Man könne nicht über die Liebermanns schreiben, ohne stets ihr Ende mitzudenken, schreibt Regina Scheer. Trotzdem erzählt sie mit großer Nähe die Geschichte eines Aufbruchs.
Es beginnt in Märkisch Friedland, einem Städtchen, das seit der Teilung Polens zu Preußen gehört. Von hier bricht zu Beginn des 19. Jahrhunderts Joseph Liebermann mit seiner Familie nach Berlin auf, das den Juden 1812 Bürgerrechte versprochen hatte. Mit von der Partie ist auch sein kleiner Sohn, der Max’ Vater werden wird. Die Liebermanns haben Sinn für Trends und Innovationen und werden als Händler, Erfinder und Fabrikanten bald reich und einflussreich. „Wir sind die Liebermanns“, sagte einer Familienanekdote zufolge Joseph Liebermann, als er 1839 im Luxuskurort Teplitz König Friedrich Wilhelm III. vorgestellt wird. Die Liebermanns nämlich, „die die Engländer vom Kontinent vertrieben haben“ – und zwar aus dem profitablen Geschäft mit Baumwolle und bedruckten Stoffen, die als Prussian shawls fürs biedermeierliche Outfit unverzichtbar geworden waren.
In wenigen Jahren war die Familie europäischer Marktführer auf diesem Sektor geworden und trug damit entscheidend zu Berlins rasantem Aufstieg zur Wirtschaftsmetropole bei. Josephs Enkel Emil Rathenau wird später die Stadt elektrifizieren. Aber bis dahin vergeht noch mehr als eine Generation, wird geheiratet, werden Synagogen gebaut und getreu den jüdischen Religionsgesetzen Einrichtungen für Arme und Kranke unterstützt. Zuletzt wird Max Liebermann in diesem Sinne Kindertransporte nach Palästina finanzieren helfen. Obwohl sie als Industrielle, Künstler und Politiker zur Elite gehören, bleiben sie als Juden Außenseiter, erleben Kränkungen und Zurückweisungen – Erfahrungen, die das Liebermann’sche Lebensgefühl über Generationen hinweg grundieren.
Detailreich und schillernd, manchmal ausufernd, aber nie den Faden verlierend, erzählt Regina Scheer in ihrem unverwechselbar subjektiven Ton auch Berliner Stadtgeschichte. Aus unscheinbaren Mauerresten, gesichtslosen Straßenzügen und Supermärkten der Gegenwart rekonstruiert ihr enormes Vorstellungsvermögen eine ganze Epoche. ESTHER SLEVOGT
Regina Scheer: „Wir sind die Liebermanns. Die Geschichte einer Familie“. Propyläen, Berlin 2006, 415 Seiten