Gefühlte Konjunktur : Kommentar von Ulrike Herrmann
In Deutschland herrscht eine seltsam gespaltene Wahrnehmung vor: Monatelang hat die Insolvenz der Siemens-Handysparte BenQ die Medien beschäftigt – immerhin ging es da um 3.000 Stellen. Das lässt darauf schließen, dass immer noch jeder Arbeitsplatz kostbar ist in Deutschland. Gleichzeitig werden jedoch nur noch freudige Botschaften verkündet, auch gestern wieder: Die Beschäftigung steigt, und sogar die sozialversicherungspflichtigen Stellen legen zu. Geradezu euphorisch nehmen viele Wirtschaftsforscher an, dass die Konjunktur in diesem Jahr weiter brummt. Eigentlich müssten die verlorenen BenQ-Stellen da doch ins Gewicht fallen.
Diese eigenartige Spaltung in der Wahrnehmung spiegelt sich auch in Umfragen wider: Viele Normalbürger glauben ebenfalls an den Aufschwung – nur glauben sie nicht mehr, dass sie selbst davon profitieren. Gestern ergab eine Umfrage, dass 51 Prozent damit rechnen, dass sie künftig weniger Geld im Portemonnaie haben werden. Vor einem Jahr waren es noch 41 Prozent. Dieser Pessimismus inmitten eines Booms ist bemerkenswert. Aber er ist angebracht. Denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Löhne so stark steigen wie die Mehrwertsteuer.
Eigenartig zweigeteilt ist schließlich auch die Solidarität in Deutschland: Die BenQ-Beschäftigten genießen bundesweite Anteilnahme. Aber noch gehören sie ja auch zum angesehenen Stand der Arbeitnehmer – ihre Arbeitslosigkeit ist absehbar, aber noch nicht real. Ganz anders ergeht es Langzeitarbeitslosen, die die Kündigung schon hinter sich haben: Sie erfahren so wenig Solidarität, dass sie noch nicht einmal mit sich selbst solidarisch sein können. Zu einer bundesweit koordinierten Demonstration in Mainz erschienen gestern ganze fünfzig Hartz-IV-Empfänger. Die Langzeitarbeitslosen sind gesellschaftlich derart verachtet, dass es ihnen nun selbst peinlich ist, mit einem anderen Leidgenossen erblickt zu werden.
Aber eigentlich sind diese vielen Widersprüche ganz logisch, ist doch Perspektive eine Frage des Standortes. Es spiegelt sich die Rationalität einer Klassengesellschaft. Die Nachricht ist nur, dass diese Klassen offenbar immer stärker auseinanderdriften.