: Nur böse Menschen haben keine Lieder
Es scheint, als ginge mit dem gemeinsamen Singen wieder ein Stück deutschen Kulturguts verloren. Dabei verjüngt es sich nur – vor allem wegen Karaoke
VON GUNNAR LEUE
„Natürlich!“, hatte Angela Merkel unlängst auf die Frage von Reinhold Beckmann geantwortet, ob sie bei guter Laune schon mal im Kanzleramt vor sich hin trällere. Nur selber zu singen, das fehle ihr manchmal. In der Oper, da könne man „mal abschalten“. Früher habe sie den Nachbarn am 1. Advent schon mal ein Ständchen gebracht: „Das fehlt mir manchmal.“ Heute singe sie nur ab und zu mal mal „beim Kartoffelschälen“, ansonsten sei Ruh’.
Das gilt für die meisten Deutschen, wo selbst zu Weihnachten in den wenigsten Stuben noch unterm Tannenbaum ein Lied angestimmt wurde. Der Chor der Bedauernden ist groß.
Nicht nur Chorleiter Gotthilf Fischer klagt über das Verschwinden deutscher Gesangstraditionen, auch Götz Alsmann, des Fernsehens liebster Musiker, geißelt das „verloren gegangene Singen“ bei Wanderungen, Geburtstagen oder anderen Anlässen als Verlust kulturellen Erbes, gegen den nicht zuletzt die Schulen vorgehen müssten. Eine Verdoppelung des Musikunterrichts wünscht sich Herbert Grönemeyer.
Während das dauern dürfte, gibt’s bei Lidl jetzt bereits Karaokemaschinen. Was nichts anderes bedeutet als den Durchbruch von Karaoke zum Massenspaß, wie ihn auf vergleichbare Weise auch der deutsche Volksliedbarde Heino den Älteren bringt. Tickets für dessen Comebackkonzerte 2007 gibt’s übrigens ebenfalls bei Lidl, offenbar will der rufgeschädigte Laden etwas für das Singen in Deutschland tun.
Dass Karaoke the „next big thing“ in der bunten Junge-Leute-Freizeitwelt ist, überrascht indes vielleicht nur noch Teilnehmer des diesjährigen Bob-Dylan-Kongresses. Kneipenbesitzer und Softwarehändler wissen es schon lange. Für Kulturpessimisten sicher ein weiterer Beweis für die Globalisierung des schlechten Geschmacks: Erst der Kulturschund aus Amerika (plus Halloween!), nun auch noch das Falschsingspiel aus Fernost. Und die Jugend freut sich dran. Wie konnte es nur so weit kommen?
Klarer Fall, und zwar der Fall der Peinlichkeitsgrenze, vor allem bei jungen Leuten, wie die Berliner Musikwissenschaftlerin Martha Brech nach Auswertung einer Studie weiß. Nicht zuletzt die Karaokespiele für Konsolen hätten bei den Jugendlichen „eine deutlich positivere Einstellung zum Gesang“ entwickelt.
Während die Jugend zunehmend bar jeden Schamgefühls zu Hause und auf Partys drauflos trällert – ein Drittel der befragten Unter-20-Jährigen haben schon mal Karaoke gesungen –, singen ihre Eltern fast nur dort, wo man sie nicht hört, wie etwa unter der Dusche. Oder dort, wo man in der anonymen Masse verschwindet, wie im Fußballstadion.
Dass Deutschland eine ganze Generation an Sängerinnen und Sängern verloren gegangen ist, wird gern den 68ern und ihrem Denkervorbild Adorno angekreidet; der hatte Nazitum und Singsang in einen großen Zusammenhang gebracht und damit der fortschrittlichen Jugend den gemeinschaftlichen Vortrag deutschen Liedguts gründlich vergällt. Den Rest besorgte Heino.
Dabei wird freilich übersehen, dass auch bei den jungen Brüdern und Schwestern in der DDR die Lust am traditionellen Gesang abnahm, was fälschlicherweise gerne als Widerstandsakt gegen den offiziellen Hype von Pionier- und Arbeiterliedern interpretiert wird. Eher zeigte es, dass auch der junge Ossi nach Coolness trachtete und die in weiter Ferne wähnte, würde er eine „Heart of Gold“-Lagerfeuerrunde durchs „Heideröslein“ sprengen.
Im Prinzip ist es noch heute so. Michael Blume, Musiklehrer an einer Gesamtschule in NRW, gesteht: „Dass man junge Leute sofort mit Volksliedern begeistern kann, habe ich noch nicht erlebt. Es sei denn, sie sind so aufbereitet, dass sie in ihren Hörerfahrungsschatz hineinpassen.“
Als Vorsitzender des Musikrates des Deutschen Chorverbandes weiß er zudem, „dass junge Menschen ihre Freizeit nicht mit wesentlich älteren Leuten verbringen wollen“. Deshalb nehme tatsächlich die Mitgliederzahl in den vereinsmäßig organisierten traditionellen Chören ab, nicht jedoch die Zahl der Freizeitsänger.
Blume schätzt, dass es neben den 26.000 Chören in seinem Verband noch etwa 14.000 nicht organisierte gebe: „Permanent werden neue Chöre gegründet, die andere Programme und ein anderes Selbstverständnis entwickeln. Das sind meist etwas kleinere und nicht so streng organisierte Gruppen.“ Quasi eine Art Indieszene.
Michael Blume findet auch Karaoke nicht schlimm, weil er jede Form von Singen begrüßt. Schade sei nur, wenn die Singenden keine Hilfestellung bekämen. „Ich weiß aber, dass viele Karaokesänger sich auf einmal Gesangsunterricht nehmen, um sich zu verbessern.“
Auch „Deutschland sucht den Superstar“, die Karaokemaschine von RTL, sieht er nicht negativ, weil sie dazu führe, „dass sich die Leute wieder mit Singen auseinandersetzen“. An seiner Schule hat Lehrer Blume kürzlich die Aktion „Vokalklasse“ gestartet, bei der im fünften Schuljahr eine tägliche Musikstunde stattfindet, in der überwiegend gesungen wird. Das bringe nicht nur Spaß, sondern fördere auch die Intelligenz, das Sozialverhalten und die Gesundheit.
Letzter Stand der Wissenschaft: Singen erhöht die Konzentration von Immunoglobin A im Körper, was gut ist für die Stärkung des Immunsystems. Wer singt, lebt gesünder. Sollte man das nicht bei der Gesundheitsreform berücksichtigen?
Könnte Angela Merkel ja mal drüber nachdenken, so beim Kartoffelschälen.