: Die Zeit wird wieder Klang
FESTIVAL Neues Musiktheater der Staatsoper Berlin. Unter dem Motto „Infektion!“ blickt man 2014 vor allem zurück – auf Beckett, Feldman und Sciarrino
Als Jürgen Flimm vor drei Jahren sein Festival eröffnete, gab er freimütig zu, dass er vom „Musiktheater des 21. Jahrhunderts“ rein gar nichts verstehe. Wahrscheinlich war schon die Frage falsch gestellt. Der seltsam medizinische Titel „Infektion!“ verweist nicht in die Zukunft. Wir haben uns immer in der Vergangenheit mit irgendetwas infiziert, und so ist es nur folgerichtig, dass sich Flimms Festival auch in diesem Jahr mehr der Anamnese des Musiktheaters von heute gewidmet hat, als seiner Diagnose.
Die Geschichte der Moderne liegt der Staatsoper ohnehin buchstäblich auf der Straße. Weil die Sanierung des Stammhauses Unter den Linden berlintypisch endlos dauert, muss sie im Schillertheater spielen, zu dem auch die sogenannte Werkstatt gehört, ein kahler Raum ohne jeden nostalgischen Charme. Aber in diesem Schuppen hat Samuel Beckett regelmäßig seine eigenen Stücke inszeniert, „Warten auf Godot“ unter anderem, oder „Footfalls“ im Jahr 1976.
Auch Morton Feldman kam damals hierher, um mit Beckett zu reden. Das Programmheft berichtet anschaulich über das Ereignis. Der übergewichtige und extrem kurzsichtige Komponist und der hagere Dichter waren sich sofort einig, dass sie Opern abscheulich finden. Feldman hat trotzdem eine geschrieben. „Neither“ heißt sie, weil ihm Beckett später ein Gedicht mit diesem Titel geschickt hat, um sich für das Gespräch zu bedanken.
Jürgen Flimm bat die Regisseurin Katie Mitchell, diese Oper zu inszenieren und damit endlich auch den Komponisten vorzustellen, der in Deutschland noch immer im Schatten seines Freundes John Cage steht, oder sogar völlig unsinnig in die Reihe der Minimal-Music gestellt wird.
Wenige Töne
Wie wenig Feldman damit zu tun hat, war in einem Kammerkonzert zu hören. „For Christian Wolff“ heißt ein Stück für Klavier, Celesta und Flöte, das etwa dreieinhalb Stunden dauert und trotzdem nur sehr wenige Töne enthält. Sie erklingen einzeln, zusammen, bilden Figuren, Variationen, die sich verschieben, überlagern und wieder auseinanderfallen. Die Zeit wird Klang, scheint stehen zu bleiben, und vergeht dann doch im Nachhall der meistens sehr leisen Töne.
Danach war leicht zu verstehen, mit welchem Geniestreich Katie Mitchell Feldman auf die Bühne gebracht hat – im großen Saal, denn sie braucht Platz. Zunächst aber ist es eng und dunkel. Nur zwei trübe Lampen hängen von der Decke, darunter geht die Schauspielerin Julia Wieninger genau neun Schritte von rechts nach links, dann wieder von links nach rechts, und spricht mit ihrer Mutter, die unsichtbar im Bett liegt. Das ist Becketts Stück „Footfalls“.
Wenn es nach etwa 15 Minuten vorbei ist, beginnt das Orchester zu spielen. Der schmale Korridor für Schritte bleibt, aber er beginnt sich nach hinten zu wiederholen. Zuerst einmal, dann mehrfach, am Ende sind es acht Spuren, in denen jeweils eine Frau ihre Schritte geht, mal schneller, mal langsamer, manchmal synchron, manchmal verschoben zu den anderen. Eine von ihnen ist die Sopranistin Laura Aikin. Sie singt Töne, keinen Text, lange, kurze, leise, laute, hohe und sehr hohe Töne. Sie bilden Figuren, Variationen, die sich verbinden mit den Tönen des Orchesters oder wieder auseinanderfallen.
Nichts geschieht, kein Drama, nur die Zeit selbst wird wieder Klang, kräftiger eingefärbt durch das Orchester als im Kammerstück, und sie ist jetzt auch elementares Theater, konzentriert auf die Schritte von Schauspielerinnen auf der Bühne.
Damit hat das Festival nichts Geringeres geliefert als den einsamen Höhepunkt der Berliner Opernsaison, nämlich die vollkommene Einheit von Musik und Schauspiel, und damit auch die Vision eines radikalen Musiktheaters, das alles hinter sich lässt, was wir an Konventionen und Ritualen kennen – als hätten Beckett und Feldman tatsächlich zusammen eine Oper geschrieben.
Das haben sie nicht, aber glücklich darüber, dass es mit Katie Mitchell doch so war, konnte man sich dem offiziellen Schwerpunkt des Festivals zuwenden: Salvatore Sciarrino. Auch das ist eine Infektion, die schon länger zurückliegt. Zu sehen waren die Stücke „Lohengrin“ von 1982 und „Macbeth“ von 2002, dazu sechs kurze Streichquartette, die zwischen 1967 und 1992 entstanden: genug, um diesen enorm produktiven und zumal auf deutschen Bühnen sehr erfolgreichen Komponisten näher kennen zu lernen. Ihn interessiert vor allem die Materialität des Klangs, die er in allen möglichen Geräuschen von Instrumenten und menschlichen Stimmen erkundet. Es wispert, klappert und knirscht, überaus reizvoll vor allem in „Lohengrin“: Ausgeliehen von der Berliner Schaubühne hat sich die Schauspielerin Ursina Lardi durch einen Text gehustet, gespuckt und gestöhnt, der die unglückliche Hochzeitsnacht von Wagners Elsa mit dem Gralsritter Lohengrin satirisch aufs Korn nimmt. Konventioneller geriet Sciarrino die Adaption von Shakespeares „Macbeth“, die Jürgen Flimm höchstselbst in einem improvisierten Raum auf der Baustelle Unter den Linden inszeniert hat: Eine Kostümoper mit schönen Stimmen und hübscher Begleitmusik, mehr war da nicht zu sehen und zu hören.
NIKLAUS HABLÜTZEL