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Archiv-Artikel

Dürfen Lehrer schreien?JA

Schule Immer diese Sarrazins: Frau Sarrazin wird ein autoritärer Stil vorgeworfen. Sie schreie ihre Schüler an, heißt es. Andere finden das normal

nächste frage

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante Leserantworten aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.

taz.de/sonntazstreit

Ursula Sarrazin, 59, ist Lehrerin in Berlin – Eltern kritisierten ihren Unterrichtsstil

Die Frage ist in ihrer Plattheit kaum vernünftig beantwortbar. Natürlich sollen Lehrer nicht ohne Grund schreien, wie auch sonst kein vernünftiger Erwachsener. Wenn ein Kind aber dabei ist, sich in eine gefährliche Situation zu begeben, kann es durchaus geboten sein, die Stimme zu erheben, um ein Unglück zu verhindern. Die Stimme eines Lehrers im Unterricht muss, wie überall im sozialen Umfeld, der Situation angemessen sein, dazu gehört, dass sie mal leiser, mal lauter, mal entschiedener, mal weicher ist. Der Lehrer wirkt mit seiner Gesamtpersönlichkeit, dazu gehört auch die Stimme. Wenn diese gegenüber einem ausgesprochenen Lümmel mal etwas lauter ist, so kann dies durchaus pädagogisch geboten sein. Es kommt immer auf den Kontext an und darauf, die für die Situation richtigen Signale auszusenden.

Stephan Serin, 32, hat einen Bestseller über seinen Alltag als Lehrer geschrieben

Natürlich sollten Lehrer schreien dürfen. Alle anderen Menschen tun das schließlich auch. Mir fällt kein überzeugendes Argument ein, weshalb Pädagogen von diesem Recht ausgenommen werden sollten. Wobei ich aus eigener Erfahrung gestehen muss, dass ich davon im Unterricht viel zu selten Gebrauch mache. Schon häufiger haben mich Schüler, wenn ich die Unruhe in der Klasse nicht in den Griff bekam, ermahnt, sie doch bitte schön mehr anzuschreien. Ich habe jedes Mal Besserung gelobt, doch tue mich bis heute schwer, meinen Worten Taten folgen zu lassen. Erfolgreiches Schreien ist nämlich gar nicht so einfach. Dafür braucht man nicht nur ein kräftiges Organ, sondern obendrein das nötige Timing. Wenn beispielsweise jemand im Raum lauter schreien kann als man selbst, dann sollte man lieber davon absehen. Und man darf außerdem nicht in die Unruhe hinein schreien, da sonst der verbale Subtext der Botschaft beim Adressaten bestenfalls gefiltert ankommt. Diese beiden Bedingungen machen Schreien im Unterricht zu einer besonderen Herausforderung. Ich kann daher nur den Hut vor Kollegen ziehen, die es trotzdem versuchen.

Hans Peter Vogeler, 51, Deutschlands oberster Elternvertreter im Bundeselternrat

Sie dürfen es, wenn eine akute Gefährdungssituation vorliegt, zum Beispiel im Sportunterricht oder bei Rangeleien. Es kann auch eine Maßnahme sein, wenn Schüler über Tische und Bänke gehen. Entscheidend ist, dass das Schreien gegen die Handlung einer ganzen Gruppe gerichtet ist, nie gegen Personen und schon gar nicht gegen einzelne Kinder. Natürlich ist Schreien kein Allheilmittel und ersetzt nicht pädagogische Maßnahmen. Ein lernförderliches Klima, interessanter Unterricht und vor allem ein respektvoller Umgang von Schülern untereinander und von Lehrern und Schülern ist die beste Voraussetzung, dass Lehrer gar nicht schreien „müssen“.

Jonas Weyrosta, 23, lebt in Göttingen und hat das Thema auf taz.de kommentiert

LehrerInnen müssen schreien. Vor allem in Grundschulklassen entsteht Unruhe, weil die Sprösslinge ihre Grenzen austesten und sie einer ungewohnten Konzentrationsanforderung ausgeliefert sind. In höheren Semestern kommen die obligatorische Coolness und das Interesse am anderen Geschlecht hinzu. Wenn diese Phasen von der Lehrkraft geduldig und ungesühnt hingenommen würden, hätte dies negative Auswirkungen auf die Charakterbildung. Das Verhältnis ist ein ewiges Spiel des Auslotens der gegenseitigen Grenzen. Doch ist der strukturell mächtigere Lehrer nicht nur autoritär, sondern zugleich authentisch und bekundet er echtes Interesse, dann wird das Schreien überflüssig. Es zählt der Dialog mit dem Schüler fernab des Unterrichts.

NEIN

Eva Marie Haberfellner, 65, leitet seit 2007 das Elite-Internat Schloss Salem

„Die Schulklassen waren klein, etwa zwischen sieben und zehn Teilnehmern, die Lehrer jung, frei der Umgang mit ihnen, nichts mehr von dem Ducken vor dem energischen, dem grausamen Quälen der alten und hilflosen Studienräte, wie es in München der Brauch gewesen war.“ Das schreibt Golo Mann, ein ehemaliger Schüler von Schloss Salem, in seinen „Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland“. Gute Lehrer benötigen herausragendes Fachwissen und die Fähigkeit, die Begeisterung für ihr Schulfach zu wecken. Sie begegnen Schülern nicht nur im Unterricht, sondern bei Sport, Musik, Theater und kennen die Familien und auch deren spezielle Situationen. Ein respektvoller Umgang ebenso wie das Erkennen, Nutzen und Fördern persönlicher Stärken und Fähigkeiten sind elementare Aspekte für Lernerfolg. Wer schreit, unterbindet dies alles. Mahatma Ghandi hat dies einmal sehr schön ausgedrückt: „Wer im Recht ist, kann es sich leisten, die Ruhe zu bewahren; und wer im Unrecht ist, kann es sich nicht leisten, sie zu verlieren.“

Bernd Althusmann, 44, CDU, ist Präsident der Kultusministerkonferenz

Nein. Lautstärke ist kein überzeugendes Argument. Die Schüler erwarten einen respektvollen Umgang an unseren Schulen, sie haben das Recht auf den bestmöglichen und nicht auf den lautestmöglichen Unterricht. Freudenschreie über Lernerfolge sind etwas anderes – sie sind aus meiner Sicht ausnahmslos zu begrüßen.

Helmut Meckel, 69, hat in Solingen 37 Jahre im schulpsychologischen Dienst gearbeitet

Wenn Lehrer Schüler anschreien, versuchen sie, diese ins Unrecht zu setzen. Was auch immer die Gründe für das Anschreien des Schülers sein mögen, der Lehrer versucht hiermit, seine höhere hierarchische Position auszunutzen, um den Schüler noch unterlegener zu machen. Und dies im Klassenraum, sodass der Schüler nicht nur die Überlegenheit spüren soll, sondern auch den Spott der Klasse und die Demütigung vor ihr. Aber durch Schreien werden die MitschülerInnen zur Parteinahme angeregt: Der Lehrer schadet sich selbst, wenn er damit eine Solidarität der Klasse für den Schüler provoziert. Bei Schülern, die keine starke Position in der Klasse haben, muss der Lehrer weniger damit rechnen, dass die Klasse solidarisch für ihn eintritt, als bei sozial starken. Im Sinne der eigenen Risikoeinschätzung ist damit zu rechnen, dass Lehrer eher sozial Schwächere anschreien als in der Klasse einflussreiche Schüler. Gerade bei den Verunsicherten kann das zu noch stärkerer Verunsicherung und Selbstwertzweifeln führen. Nein, Lehrer müssen pädagogische Wege finden, um Schüler an schulische Ziele zu binden. Schreien ist kein angemessener pädagogischer Weg.

Jörg Rupp, 44, aus Malsch, ist Grünen-Kreisvorstand in Karlsruhe und hat vier Söhne

Unser Kind hat sich sehr auf die Schule gefreut. Doch die Lehrerin in der Regelschule war überfordert. Es gelang ihr nicht, aus der Klasse eine Gruppe zu formen, die selbst für Disziplin sorgt – jeden Tag Geschrei. Unser Kind bekam psychosomatische Kopfschmerzen, so stark und dauerhaft, dass wir einen Tumor vermuteten. Der Schulleiter half nicht – die Co-Lehrerin, die zur Unterstützung in die Klasse kam, sprach in derselben Lautstärke. Unser Sohn, früher immer fröhlich, war blass, bedrückt – wir hatten zunehmend Angst um ihn. Nach vielen Gesprächen haben wir resigniert. Heute geht er auf eine freie Schule, wo respektvoll mit den Kindern umgegangen wird. Ich habe nichts dagegen, wenn eine Lehrerin mal die Stimme hebt. Aber Dauerbrüllen – das macht krank.