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Archiv-Artikel

Psychoterror auf der Couch

Therapisa und die Folgen. Ein wahrer Bericht aus der deutschen Psychiatrie

Schon mit zehn Jahren werden die Kinder in verschiedene Therapieformen aufgeteilt

„Die Stimmung in unserer Klinik ist geprägt von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Psychotherapeuten gegenüber. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst: Bilderrahmen werden von den Flurwänden gerissen, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Couchen werden aufgeschlitzt. Das Verhalten der Patienten zeigt die totale Ablehnung des Psychiaters. Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Therapeuten durch die Behandlungsräume, unsere Anweisungen werden ignoriert. Die Folge ist, dass die Kollegen und Kolleginnen am Rande ihrer Kräfte sind. Wir sind ratlos. Deshalb empfehlen wir die Schließung unserer Klinik.“

Der Hilferuf der Ärzte der psychiatrischen Hölzli-Klinik in Freiburg schlug wie eine Bombe ein und rüttelte Deutschland auf: Zum ersten Mal wurden die erschütternden Zustände in einer deutschen Psychiatrie einer breiten Öffentlichkeit bewusst – doch die Wirklichkeit sieht noch viel schlimmer aus, wie eine internationale Vergleichsstudie zur Wirksamkeit verschiedener Psychotherapieformen beweist.

Eigentlich sollte die höchste Geheimhaltungsstufe für die zweite Therapisa-Studie gelten, doch schon vorab sickerten erste Informationen durch. So belegen auch bei Therapisa II die deutschen Patienten im internationalen Vergleich nur einen Platz im letzten Drittel. Wenn in der nächsten Woche die Ergebnisse offiziell vorgestellt werden, wird die Neuauflage der Debatte um das deutsche Psychotherapiesystem folgen. Schon mit der Vorlage der Ergebnisse der ersten Therapisa-Studie im Dezember 2003 geriet Deutschland dabei auch in das Rampenlicht der internationalen Kritik. Die Ergebnisse sorgten für eine hysterische Debatte um das Behandlungssystem, die bis heute andauert. Damals hatte Deutschland im OECD-Therapievergleich unter 32 Nationen nur Platz 31 belegt.

Und wieder wird es neuen Zündstoff geben, denn Deutschland schneidet im internationalen Vergleich auch diesmal äußerst schlecht ab. Bei der Langzeitwirksamkeit der Therapien, die bei der zweiten Therapisa-Studie im Mittelpunkt stand, sollen die Patienten aus Deutschland nur den 25. Platz belegen. Die bemängelten Missstände: Ein Viertel der Kranken kann oder will demnach den Anweisungen des Therapeuten nicht folgen. „Viele Patienten können auch nach einer zweijährigen Psychoanalyse noch immer nicht zwischen Ich, Es und Über-Ich unterscheiden“, klagt etwa der Leipziger Analytiker Bert Bronnen. Bei den Erfolgen von Verhaltens- und Gesprächstherapie sieht es nicht viel besser aus – hier erreichen die deutschen Patienten nur den 20. Platz. Auslaufmodell Psychotherapie?

Dabei hatten die Verantwortlichen nach der Veröffentlichung der ersten Studie einen ungeahnten Reformeifer bewiesen. Ganzjahresgesprächskreise kamen auf die Tagesordnung, bundesweite Behandlungsmarathons wurden eingeführt. Doch nach wie vor gibt es für das deutsche Therapiesystem keine Entwarnung. Der zweite Therapisa-Vergleich belegt erneut, dass in keiner anderen Industrienation der Behandlungserfolg eines psychisch Kranken so sehr vom Einkommen und Bildungsniveau abhängt wie in Deutschland.

Ein Akademiker hat dreimal bessere Chancen auf einen Platz auf der Couch als ein Arbeiter. Dieser große Unterschied zwischen Patienten aus verschiedenen sozialen Schichten rührt auch von der frühen Selektion im deutschen Therapiewesen her. Schon mit zehn Jahren werden die Kinder in verschiedene Therapieformen aufgeteilt. So früh wie in keinem anderen Land. Durch die frühe Aufteilung der Kinder in Psychoanalyse-, Gesprächs- und Verhaltenstherapiegruppen werden Unterschiede oft zementiert. Kinder aus therapiefernen Schichten werden dabei zusätzlich benachteiligt.

Aber auch die erforderliche Mitarbeit der Patienten lässt hierzulande sehr zu wünschen übrig. „Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, bekennt der niedergelassene Familientherapeut Nico Kannewein aus Kaiserslautern. „Früher konnten sich die Patienten noch eine Stunde lang konzentrieren, heute stellen die meisten von vornherein die Ohren auf Durchzug, sind nicht mehr ansprechbar.“

Auch Therapeuten anderer Fachrichtungen berichten über unhaltbare Zustände in ihren Praxen. In Gesprächstherapien werden Kreuzworträtsel gelöst, viele Patienten spielen während der Behandlung mit dem Handy oder basteln Papierflieger. Kein Wunder, dass bei vielen Therapeuten deshalb die Leistungsreserven erschöpft sind. Demotivation, innere Kündigung, Burn-out und Frühpensionierung sind die fatalen Folgen. Was tun? Eine Auflösung der Kliniken, wie von den Ärzten der Hölzli-Klinik gefordert, würde nur andernorts das Problem verschärfen. Wir werden damit leben müssen, dass das deutsche Therapiesystem auch in Zukunft erheblich weniger Gesunde hervorbringt als andere vergleichbare Industriestaaten. Das Teufelsrad aus Unfähigkeit, Wirkungslosigkeit und schlechter Laune wird sich in Deutschland weiterdrehen.

RÜDIGER KIND