: Der Autoschlüssel als Hostie
Die Automobilkonzerne liefern sich ein Wettrennen um die schönste Kathedrale der Mobilität: Durch die „BMW-Welt“ in München, VWs „gläserne Manufaktur“ in Dresden oder das Stuttgarter Mercedes-Museum werden Marken zu Mythen
VON ARNO FRANK
Hartmut Mehdorn hat es einfach nicht begriffen. Da scheut die Deutsche Bahn keine Kosten, sich in Berlin einen repräsentativen neuen Hauptbahnhof entwerfen zu lassen. Geplant war ein gravitätisches Statement aus Stahl, Glas, Beton und Marmor. Stahl, Glas, Beton und Marmor wurden auch tonnenweise verbaut. Nur das Statement fehlt. Weil ihm die kostspielige Gewölbekonstruktion über den unteren Stockwerken zu teuer war, verfügte der stattdessen den Einbau praktischer Flächen – und opferte so den ursprünglich vorgesehenen Effekt größtmöglicher vertikaler Transparenz.
Es ist, als hätten ihre Baumeister die Kathedrale von Chartres nicht mit himmelstürmenden Kreuzgratgewölben überhöht, sondern mit einer dumpfen Kassettendecke abgedeckt. Aus Kostengründen. Gekränkt über ihre verhunzte Vision haben die Architekten vor Gericht unlängst einen Rückbau auf ihren ursprünglichen Plan erstritten, der die Bahn bis zu 60 Millionen Euro kosten könnte. Was allerdings nichts mehr daran ändert, dass ausgerechnet die Bahn nach bald 150 Jahren reger Bautätigkeit offenbar ihr Interesse daran verloren hat, der Mobilität moderne Tempel zu setzen – die stehen oder entstehen derzeit anderswo.
In Wolfsburg, Leipzig, Dresden, Stuttgart oder München scheinen sich die Autokonzerne wie konkurrierende Kirchen in der Errichtung neuer Kathedralen gegenseitig überbieten zu wollen. Volkswagen machte mit der „Autostadt Wolfsburg“ und der „gläsernen Manufaktur“ in Dresden den Anfang, DaimlerChrysler setzte sich in Stuttgart ein spektakuläres museales Denkmal, im Frühsommer wird in München die „BMW-Welt“ von Coop Himmelb(l)au ihre Pforten öffnen, derweil Porsche sich von Delugan Meissl eine kantige Basilika in Zuffenhausen planen lässt. Kein Museum, kein Konzertsaal und kein Fußballstadion ist heute technisch und ästhetisch auch nur annähernd so avanciert wie die waghalsigen Baudenkmäler, mit denen die Autohersteller ihre Marke zum Mythos machen möchten. Und wie kein zweites Bauwerk nimmt das moderne „Autohaus“ auch die sakralen Funktionen der Kathedrale auf.
Was da vor sich geht, wird beim BMW-Autowerk in Leipzig besonders deutlich. Hier hat die irakisch-britische Architektin Zaha Hadid die Banalität der Fabrikhallen mit einem transparenten Riegel durchkreuzt, indem die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben und sogar die Arbeitsprozesse virtualisiert zu sein scheinen. In luftiger Höhe kreuzen Förderbänder den Raum, schweben Karosserien von der Lackierung zur Montage spiralförmig ihrer Vollendung entgegen, als wär’s ein barockes Deckengemälde. Für Volkswagen hatte Hadid bereits ein angemessenes Portal für die dortige „Autostadt“ zwischen Bahngleise, Mittellandkanal und Schnellstraße gerammt: eine windschlüpfrige Bauplastik, in der das Technikmuseum „Phaeno“ untergebracht ist, das eine Brücke zwischen Stadt und „Autostadt“ sein soll.
Dort werden VW-Kunden durch einen idealisierten Themenpark geschleust, der verdächtig an Disneyland erinnert. Oder an einen pantheistischen Garten. Jeder Marke im Konzern ist ein eigener Pavillon mit eigener Formensprache gewidmet, vom bukolischen Idyll bei Škoda bis zum künstlichen Vulkan bei Lamborghini. Im „Zeithaus“ wird der Kunde durch die Geschichte geführt, von der die automobilen Ausstellungsstücke Zeugnis ablegen wie einst die Reliquien der Heiligen. Wie früher die Gegenwart Gottes, so soll heute die „Identität der Marke“ unmittelbar sinnlich erfahrbar sein. Wie man des eucharistischen Christus durch das Schauen teilhaftig wurde, so soll mit dem Artefakt des sakralisierten Automobils „in visu“ kommuniziert werden. Umschmeichelt und überwältigt vom mythologischen Brimborium, soll er auch später noch die richtige Kaufentscheidung treffen.
Der Hersteller Opel scheiterte in den späten Neunzigern mit einem ähnlichen Park in Rüsselsheim, weil „Opel Live“ allzu hemdsärmelig daherkam. Wer will, dass die Leute freiwillig ihre kostbare Freizeit für eine sublime Gehirnwäsche opfern, der muss ihnen auch etwas bieten. Klang, Schein, Werte, Anschauung. Und das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen – bis hin zur Übergabe der Autoschlüssel, der Entgegennahme der Hostie. Denn wie es den Kathedralen des Katholizismus um Seelen gegangen ist, so geht es den Kathedralen der Konzerne um Kunden. Zentrale Bewegung in all diesen Gebäuden ist die kreisförmige Levitation, der dynamische Drang nach oben. Was Anton Meyer über die Kathedralen schrieb, gilt heute noch für die metaphysische Mechanik der großen Autohäuser: „Nun strahlen von der erhobenen Hostie wie vom heiligen Gral Wunderkraft und Heil aus auf alle, die sie sehen.“ Was früher freilich auf die Unsterblichkeit der Seele und die „unio mystica“ mit Gott zielte, verweist heute auf ein Heilsversprechen ganz anderer Art, nämlich als Einzelner geborgen zu sein in einem eigenen hermetischen Innenraum, dem des Automobils als erweitertem Selbst. Was mal vier Wände waren, ist nun auf vier Räder gestellt – wobei der rein ideelle Wert eines Fahrzeugs als Instrument der Flexibilisierung im automobilen Repräsentationspalast sinnlich begehbar gemacht werden soll.
Auch am BMW-Stammsitz in München sollen nun das berühmte „Vierzylinder“-Hochhaus nebst geducktem Museum in Form einer Opferschale um eine gewaltige „Wolke“ ergänzt werden, die sich auf nur sieben Pfeilern in die Höhe wirbelt und schützend wie ein Baldachin über dem gesamten „Erlebnis- und Auslieferzentrum“ hängt. Geschäfte und Galerien sollen das Ensemble mit dem gesellschaftlichen Leben der Stadt verknüpfen, damit es nicht futuristischer Fremdkörper bleibt – sondern jener „Marktplatz“ wird, der BMW vorschwebt. Überhaupt erlebt das immaterielle, fast irreale Schweben der Architekturen eine ungeahnte Renaissance.
Seitdem die Gotik mit ihren filigranen Pfeilern eine übernatürliche Schwerelosigkeit suggerierte, ist nicht mehr so konsequent auf Überrumpelung gesetzt worden. Bei jedem Schritt bieten sich neue Perspektiven, Blickachsen überlagern sich, nimmt das Statische auf magische Weise Fahrt auf. Es ist das alttestamentarische Motiv der „schwebenden Stadt“, das hier in verweltlichter Form weiterlebt. Es ist kein Zufall, dass sich Hans Prix vom Wiener Architekturbüro Coop Himmel(b)au, zuständig für die „BMW-Welt“, zuvor schon einen Namen mit „gebauten Wolken“ gemacht hat. Schon im Barock verliehen aufgemalte Wolkengebirge den tonnenschweren Gewölben eine himmlische Leichtigkeit – derselbe Illusionismus begegnet uns heute in vollendeter Form. Schon die Erbauer der Kathedralen hatten die Absicht, den Himmel zu schildern.
Der Kunsthistoriker Hans Sedlmeyer sah diese Absicht im augenscheinlich instabilen, vergänglichen Zustand der Schwerelosigkeit verwirklicht. Gerade das Labile illustriere das Übernatürliche dieser Welt: „So wird zum Beispiel in den Archivolten die Vision der Apokalypse von den vierundzwanzig Ältesten, die den Thron Gottes umkreisen, beim Wort genommen. Die taumelnden und kreisenden Formen der Architektur geben Einblick in eine Welt, in der die irdischen Gesetze aufgehoben und deren Tatsachen mystischer Natur sind.“
BMW und Mercedes bedienen sich zu diesem Zweck der Doppelhelix – einer verwirrenden Schraubenform, wie man sie von Leonardo Da Vincis Treppe im französischen Schloss Chambord, aus Frank O. Gehrys Guggenheim in New York – oder eben jedem Parkhaus kennt. Technische Innovationen machten die Strebepfeiler und Maßwerke der Gotik erst möglich, technische Entwicklungen liegen auch den Wundern der neuen Bauten zugrunde. Computergenerierte Architektur macht mit Gebäuden, was sie zuvor schon mit Automobilen machte: Sie stellt sie in virtuelle Windkanäle, setzt die digitalen Verwirbelungen aus oder verwandelt Kuben in Strudel. „Carchitekture“ nennt man dieses rechnergestützte Bauen.
Es ist der Einbruch des Virtuellen in die Realität, vollendet in denkbar kurzer Bauzeit. Die Kathedralen des Mittelalters standen jahrhundertelang unvollendet in der Gegend herum, die Kathedralen unserer Zeit poppen schlüsselfertig aus dem Boden. Wie lange sie wohl stehen werden? So lange, bis wir den Glauben an das Auto verloren haben. Der Glaube an die Bahn währte nur knapp 150 Jahre.