Die vielen Augenpaare im Gebüsch

RETROSPEKTIVE Kunstverein Tiergarten und Galerie Schwartzsche Villa zeigen Ceija Stojkas beeindruckenden Zyklus aus schwarz-weißen, grafischen Blättern und farbigen Gemälden „Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz“

■ „Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz“, Ausstellung in drei Teilen: Galerie Nord,Turmstraße 75. Di.–Sa. 13–19 Uhr, bis 26. Juli.

■ Galerie Schwartzsche Villa, Grunewaldstraße 55, Di.–So. 10–18 Uhr, 2. Juli bis 31. August.

■ Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück in Fürstenberg/Havel, 13. Juli–12. September, Di.–So. 9–18 Uhr.

■ Lith Bahlmann und Matthias Reichelt, die zusammen die Stojka-Ausstellungen organsiert haben, haben den Zyklus „Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz“ zudem in einem umfangreichen Katalog publiziert. Verlag für Moderne Kunst, Nürnberg, 450 Seiten, 39,80 Euro.

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Zuerst sieht man nur Bewegung, den Wind. Und dann die Natur – ein dichtes und wildes Geflecht von Gräsern und Zweigen, das Ceija Stojka mit hellen Farben auf dunklem Grund gemalt hat, eine fast abstrakte Komposition, die die Augen eine Weile beschäftigt. Und man erschrickt beinahe, wenn man entdeckt, dass Augen aus dem Gebüsch zurückschauen, viele Augenpaare.

Das Motiv, das Ceija Stojka 2003 in mehreren Fassungen gemalt hat, gilt der Erinnerung an einen Moment großer Angst, der Jahrzehnte zurückliegt. Als Ceija Stojka, die zu den Lovara gehört, einer in Österreich ansässigen Volksgruppe der Roma, ein zehnjähriges Mädchen war, versteckte ihre Mutter sie und ihre Geschwister unter Laubhaufen nachts in einem Wiener Park, um sie vor der Gestapo zu retten. Der Vater ist zu diesem Zeitpunkt, 1943, schon im Rahmen eines Euthanasie-Programms ermordet worden. Im März 1943 wurden auch Ceija Stojka, ihre Mutter und die kleinen Brüder deportiert, zuerst nach Auschwitz, dann nach Ravensbrück, später nach Bergen-Belsen.

Zweimal in Berlin

Von all diesen Orten erzählt der umfangreiche Zyklus „Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz“, an dem Ceija Stojka mehr als 20 Jahre gearbeitet hat, von 1990 bis 2012. In Berlin wird er nun an zwei Orten ausgestellt: Die Galerie Nord zeigt mehr schwarz-weiße, grafische Blätter; in der Schwartzschen Villa in Steglitz eröffnet am 1. Juli eine Ausstellung mit ihren Gemälden.

Wenn man die Tuschezeichnungen schon gesehen hat, ihre schwarzen Bilder, in denen die Konturen so oft verlöschen, durchscheinend werden und oft nur ein Wischer andeutet, dass dies ein Mensch gewesen ist, der nicht überleben konnte, dann hauen einen ihre farbigen Bilder erst mal um. Solch ein Glühen und Leuchten in den Farben. Das intensive Grün der wenigen Bilder, die von einem verlorenen Paradies erzählen, als ihre Familie noch als Pferdehändler unterwegs war. Das knallige Pink, auf dem unter dem Titel „Jawoll, mein Führer“ ein streichholzdünner Mann tanzt, begleitet von einem kläffenden Hund und einem toten Raben. Das Blau, in dem die Raben um einen Schornstein kreisen, auf dem „Birkenau KZ“ steht. Es behauptet sich so viel Vitalität in diesen Farbkontrasten, so viel Stärke, Erinnerungen an die Zeit in den Konzentrationslagern zuzulassen, so viel Mut, jetzt laut zu erzählen, wo man herkommt.

Einmal schaut man auf einem Bild in ein Feuer, rot züngeln die Flammen und dazwischen sieht man mit flehend erhobenen Händen die Körper von Frauen und Kindern. „Dies zu beschreiben fällt mir schwer. Verzeiht, Ceija. Die Wahrheit“ ist das Bild schockierend wahrhaft auf der Rückseite beschrieben.

Es behauptet sich so viel Vitalität in diesen Farbkontrasten, so viel Stärke, Erinnerungen an die Zeit in den Konzentrationslagern zuzulassen, so viel Mut, jetzt laut zu erzählen, wo man herkommt

Ceija Stojka, die 2013 mit achtzig Jahren gestorben ist, begann erst 1988 zu malen. Vorausgegangen war dem schon an anderer, sehr ungewöhnlicher Schritt. Stojka hatte ein Buch veröffentlicht, „Wir leben im Verborgenen – Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin“, und damit zum ersten Mal aus der Perspektive der Verfolgten die Geschichte des Genozids an den Roma erzählt und von ihrem Unsichtbarwerden in der Nachkriegszeit. Wer die Lager überlebt hatte, war von so einem schweren Trauma betroffen, dass ein Reden davon selbst in der Familie kaum möglich war, erst recht nicht in einer bald wieder fremdenfeindlichen Nachkriegsgesellschaft.

In ihren Bildern setzt Stojka die Arbeit an der Erinnerung fort und findet dabei immer neue, visuelle Wege, die Grenzen des Sagbaren auszuloten. Oft geschieht das auch in der Wiederholung, dem Wieder- und Wiederkehren einer quälenden Szene, wie dem Stehen auf dem Appellhof. Mal zeichnet sie mit dünnen Federstrichen Mütter und Kinder, die sich an sie drängen, die Gesichter sind individuell erfasst, am Bildrand von dreieckigen Masken mit SS-Mützen umgeben. Mal markiert sie die zusammengedrängte Menschenmenge mit Fingerabdrücken als Kopf und gewischten Strichen anstelle der Körper, die schon von aller Kraft verlassen sind.

Ein wiederkehrendes Motiv sind die Raben, die in vielen Formen zu Stellvertretern der Leidenden werden. Auch viele dieser Vögel verfangen sich und sterben in dem elektrisch aufgeladenen Stacheldraht, der das Lager umgibt. Aber andere von ihnen leben weiter und bevölkern die Himmel als vielfache Zeugen des Mordens. Und bei manchen Bildern wünscht man sich, sie als Verkörperung des Geistes der Toten, als Botschafter der Erinnerung an sie lesen zu können. Die schwarze Chiffre, mit der die Vögel in vielen Bildern angedeutet sind, durchläuft dabei auch Metamorphosen, als ob in ihnen tatsächlich Teile anderer Wesen davonfliegen könnten.