: Montessori zum Üben
Vor 100 Jahren hat Maria Montessori ihr erstes Kinderhaus eröffnet. Heute boomt ihr Konzept wie nie zuvor. Viele sehen es als Allheilmittel – dabei ist die individuelle Methode gar nicht so einfach
VON WOLF SCHMIDT UND ANJA DILK
Kürzlich, auf den Fluren vor der Musikschule, war es wieder so weit. Eltern stehen mit erhitzten Gesichtern beisammen. Auf welche Schule nur soll unser Kind? Kiezschulen taugen nichts, sagt Svens Vater. Europaschulen überfordern die Kinder, jammert die Mutter von Lisa. Da schwärmt Olivias Mutti: „Montessori, das ist was. Einfach wunderbar. Da muss unser Kind hin.“
Die Eltern kriegen sich nicht mehr ein. Ach ja, Montessori, eine Schule, in der das Kind im Mittelpunkt steht. In der sie sich frei von Leistungsdruck in eigener Geschwindigkeit entfalten. Eine Schule, die eben anders ist.
Nie zuvor war die Montessori-Begeisterung so verbreitet wie heute. Pisa hat das Vertrauen in das öffentliche Schulsystem erschüttert. Aus Furcht vor den schmalen Leistungen der etablierten Lehranstalten suchen Eltern händeringend nach Alternativen. Reform, das klingt neu, in jedem Fall anders, ganz bestimmt besser. Ganz weit vorn in der Gunst der Väter und Mütter: „Maria Montessori“.
Hungrig nach einer anderen Schule, greifen viele Eltern zu. Montessori klingt liebevoller, kindgerechter, besser – es steht heute als Chiffre für gute Schule. „Montessori ist aber auch zur Ersatzreligion für Schafwollpulli-Eltern geworden“, kritisiert ein Schulleiter aus Norddeutschland. „Gerade Eltern, die fürchten, dass ihr Kind im öffentlichen Schulsystem nicht genug gefördert werde, setzen auf dieses Angebot – oft völlig unkritisch.“ Ob diese Pädagogik tatsächlich zu den Bedürfnissen ihres Kindes passt, ob die Schule tatsächlich ein durchdachtes Konzept und gut ausgebildete Montessori-Lehrer hat, hinterfragt kaum einer.
„Wer zu uns kommt“, sagt die Leiterin einer Berliner Schule mit Montessori-Zweig, „das sind Eltern, die etwas Besonderes für ihre Kinder wollen.“ Dazu gehören durchaus anstrengende Figuren. „Sagen wir mal so: Die Fähigkeit, Wünsche zu äußern, ist ausgeprägt“, sagt die Rektorin – die aber die Eltern wie die Methode einzuschätzen weiß. Bei Montessori sei es eine eingespielte Sache, dass die Kinder lernen, frei zu arbeiten. Ein „totales Umdenken“ für Lehrer, Schüler und Eltern, aber wichtig, um den Gleichschritt der Regelschule zu überwinden.
Es war eine pädagogische Revolution, als die Ärztin Maria Montessori 1907 im römischen Stadtteil San Lorenzo ihr erstes Kinderhaus eröffnete. Im Casa dei Bambini wurden Methoden erprobt, die Kindergarten und Schulen überall auf der Welt erobern sollten.
Auch in Deutschland boomt Montessori wie nie zuvor. Nach der Wende eröffneten zahlreiche Einrichtungen in Ostdeutschland, wo Montessoris Ideen zu DDR-Zeiten als elitär verpönt waren. Der Pisa-Schock von 2001 gab der Reformpädagogik in Ost wie West zusätzlichen Auftrieb. Mittlerweile verpflichten sich laut dem Montessori-Dachverband rund 1.000 Einrichtungen in Deutschland der Methode Montessori. 600 davon sind Kitas und Kindergärten und 300 Grundschulen, weiterführende Schulen nach Montessori gibt es nur wenige.
Die Methode Montessori stellt, für damalige Verhältnisse radikal, das Kind und seine individuellen Wünsche in den Mittelpunkt. Statt starre Vorgaben und strikte Stundenpläne einhalten zu müssen, dürfen die Kinder wählen, woran und womit sie arbeiten wollen. Freiarbeit statt Drill und Frontalunterricht. Typisch für Montessori-Einrichtungen sind die so genannten Sinnesmaterialien: Buchstaben aus Sandpapier etwa, über die die Kinder mit ihren Fingern fahren und so früh das Lesen begreifen. Oder etwa die farbigen Zylinder und Perlenketten, mit denen sich die Kleinen ans Rechnen herantasten.
Die Erzieher und Lehrer sollen sich nach Montessori mit Anweisungen zurückhalten. „Hilf mir, es selbst zu tun“: Diesen Satz soll einst ein Kind zu Maria Montessori gesagt haben. Er wurde zum Motto einer weltweiten Bewegung – und steht heute unter dem Motto „individuelles Lernen“ ganz hoch im Kurs. Montessoris Idee des individuellen Unterrichts setzt sich vor allem an Grundschulen immer mehr durch. Andere Teile ihrer Pädagogik, etwa die religiös-esoterischen Prinzipien der „kosmischen Erziehung“, sind umstritten.
Erfolgreich sind vor allem undogmatische Montessori-Schulen. Als solche sieht sich die Montessori-Oberschule in Potsdam, die sich vor sechs Jahren umbenannt hat und eine der wenigen staatlichen Montessori-Schulen ist. „Wir sind eine sehr gute Schule“, sagt Rektorin Ulrike Kegler selbstbewusst. Die zahlreichen Auszeichnungen geben ihr Recht. Die Schulleiterin schätzt, dass 70 Familien allein wegen ihrer Schule nach Potsdam gezogen sind. „In Deutschland herrscht immer noch die Meinung vor, die Schüler nach Leistung kategorisieren zu müssen“, sagt Ulrike Kegler. „Wir an unserer Schule sortieren nicht aus. Jeder lernt nach seinem eigenen Tempo.“
Im Schulalltag bedeutet das: Die Klassen sind altersgemischt, auch behinderte Kinder werden in der Gesamtschule integriert, die Kinder erarbeiten schon in der ersten Klasse Präsentationen zu Apfelsorten oder Esskastanien. Noten hingegen gibt es bis zur achten Klasse nicht. In sogenannten Pensenbüchern überprüfen die Schüler ihre Leistungen selbst. Das bringt der Schule bei manchen den Vorwurf der Kuschelpädagogik ein. Schulleiterin Kegler lässt das kalt. „Wir sind keine Träumer“, sagt sie.
Eine Studie in der Wissenschaftszeitschrift Science vom vergangenen Herbst scheint der Schulleiterin Recht zu geben. Forscher haben Kinder in einem amerikanischen Montessori-Kindergärten und einer Montessori-Schule mit Gleichaltrigen verglichen, die herkömmliche Bildungseinrichtungen besuchten. Vorsprung für Montessori: Die Sechsjährigen waren sozial kompetenter und besser im Rechnen und Lesen. Bei den Zwölfjährigen zeigte sich ein ähnliches Bild: Die Montessori-Schüler schrieben kreativere Aufsätze als Schüler der Vergleichsgruppe.
Doch die an 100 amerikanischen Kindern gewonnenen Ergebnisse lassen sich nicht verallgemeinern. „Der Name Montessori garantiert den Schulen zahlreiche Anmeldungen von zahlungskräftigen Eltern“, sagt der Würzburger Pädagogikprofessor Winfried Böhm. „Es gibt aber sowohl gute als auch sehr schlechte Montessori-Schulen. Das Spektrum ist riesig.“ Böhm sollte es wissen: Er war 15 Jahre lang Vorsitzender der Montessori-Gesellschaft und hat nach eigenen Angaben so viele Montessori-Schulen besucht wie kaum ein anderer. „Man sollte sich von Montessori nicht das pädagogische Heil versprechen“, sagt Böhm. „Vor allem gute Lehrer machen den Erfolg einer Schule aus, weniger die pädagogischen Methoden.“
Pädagogikprofessor Böhm hat sein eigenes Kind einst von der Montessori-Schule genommen, nachdem dieses dort nicht mehr klarkam. Anderen Eltern rät er, sich eine Schule genau anzuschauen und sich zu fragen, ob das Konzept wirklich zum eigenen Kind passt.
„Viele Kinder können das sofort – sich ihre Themen selbst suchen“, erzählt die Rektorin einer Berliner Montessori-Grundschule, „anderen Kindern fällt das schwer. Denen müssen wir Hilfestellung geben.“ So haben ihre Lehrer, die seit sechs Jahren nach der Methode lehren, eine Beobachtung gemacht: Montessori muss man üben. „Man kann Kinder nicht wahllos in der vierten Klasse in den Montessori-Zweig einsortieren.“ Das heißt, verkürzt gesprochen: Mit der zurückgelehnten Konsumhaltung von Schülern Marke „Mach mal, Lehrer, vielleicht gehen wir dann mit“ kommt man bei Montessori nicht weit. Nicht wenige der Schulen, die vom lehrerzentrierten auf das schülerorientierte Lernen umstellen, machen diese Beobachtung. Schüler, die es gewohnt waren, vom Lehrer berieselt zu werden, müssen sich plötzlich anstrengen – und sich den Stoff selbst erarbeiten.
Was für die Beteiligten oft eine Herausforderung ist, erleichtert allerdings den Umbau des Lernprinzips der Schulen. Das jahrgangsübergreifende Lernen, das in allerlei Bundesländern gerade in den ersten Schuljahren eingeführt wird, geht in Montessori-Zweigen viel leichter. „Unsere Montessori-Klassen erwarten das altersgemischte Lernen mit großer Freude“, berichtet die Berliner Rektorin. Warum? Weil die Schüler gelernt haben, sich mit sich selbst und den Gegenständen zu beschäftigen. „Und das kommt bei jahrgangsgemischten Gruppen ständig vor“, erzählt die Leiterin, „dass die Kinder mal was alleine machen müssen.“
Ein kritischer Blick lohnt aber dennoch allemal – denn die meisten Montessori-Schulen verlangen schließlich Schulgeld. Die privaten Montessori-Schulen im Schnitt zwischen 1.800 und 3.600 Euro, wie der Verband Deutscher Privatschulen schätzt. Das hätte der Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori wohl weniger gefallen. Denn schließlich war ihr vor hundert Jahren eröffnetes Casa dei Bambini in einem Armenviertel Roms angesiedelt.