: Kultur als Dezibelgemeinschaft
Mancherorts gehört Fluchen, anderswo gedämpftes Sprechen zum guten TonDAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER
Es gehört sich nicht, etwas Nichtnegatives über Saddam Hussein zu sagen. Und trotzdem: Die Nachfrage „Muktada?“, Augenblicke vor seiner Hinrichtung, hatte Stil. Der Exdiktator sprach mit einem Geistlichen die letzten Worte: „Friede sei mit Mohammed und seiner heiligen Familie!“, als ein Wächter ergänzte: „Und mit seinem Sohn Muktada! Muktada! Muktada!“ Saddam, immerhin im Begriff, den Kopf zu verlieren, behielt ihn, wendete ihn ein allerletztes Mal und fragte mit größtmöglichem Erstaunen zurück: „Muktada?“
Muktada ist der Sohn des schiitischen Imams Mohammed al-Sadr, der Saddam einst störte, weshalb er ihn ermorden ließ. Die Schiiten glauben, dass Mohammed al-Sadr ein direkter Nachfahr des Propheten war. Sohn Muktada, Anführer schiitischer Milizen, steht im Verdacht, systematisch Sunniten massakriert zu haben.
Lakonie in einem letzten Augenblick ist selten. Zumal in ganz und gar unlakonischen Gesellschaften, wo man riskiert, wie Saddam unter irritierend genauen Richtungsangaben – „Fahr zur Hölle!“ – zu sterben. Wir haben das fast vergessen, schon weil wir uns abgewöhnt haben, unsere Toten zu verfluchen, aber die Frage lohnt: Sind menschliche Gemeinschaften in einer ursprünglichen Schicht Fluchgemeinschaften?
Ende des letzten Jahres ist das englischsprachige Programm von al-Dschasira auf Sendung gegangen. Es soll anders gemacht sein als das arabische, auch weil die Beschimpfungen, Schmähungen und Verfluchungen – der alltägliche arabische Straßenlaut – auf ein nichtarabisches Publikum irritierend wirken könnten. Genau wie die Lautstärke.
Eben ging ich in Berlin-Neukölln hinter zwei Türken, die schrien sich unentwegt an. Ich war darauf gefasst, jeden Augenblick Zeugin einer Prügelei zu werden, als der eine wirklich seinen Arm hob und – dem anderen freundschaftlich auf die Schulter schlug und ging. Erst da begriff ich es: Die beiden hatten sich nur unterhalten.
Vielleicht unterscheiden wir uns gar nicht so sehr dadurch, woran wir glauben – an Allah, an die Menschenrechte oder an gar nichts. Vielleicht sind Kulturen in ihrer Grundschicht Dezibelgemeinschaften. Also Versammlungen von Gleich-Lauten.
Nur wer war am Anfang? Die Lauten oder die Leisen?
Im Augenblick hört man gerade jene, die man normalerweise nicht hört. Deshalb fällt das auf. Eine europäische Urzelle des gedämpften Sprechens hebt die Stimme. Von hitzigen Debatten ist die Rede. Es gibt Turbulenzen in Oxford. Die haben da zum ersten Mal einen nicht aus Oxford stammenden Rektor, und der hatte auch noch die Idee, die universitäre Selbstverwaltung durch ein etwas effizienteres Gremium zu ersetzen. McKinsey war auch schon da. Und nun wehrt sich der alte Univercity Council, schließlich existiert er schon viel länger als McKinsey, nämlich 900 Jahre. Und wer weiß, ob es McKinsey in 900 Jahren noch gibt?
Oxford ist seiner Gründungsurkunde nach natürlich auch eine Dezibelgemeinschaft. Nichts ist leiser als das Denken. Und der akademisch gedämpfte Ton ist immer noch eine Erinnerung an dessen Stille. Denken ist überhaupt volksfeindlich. Nicht zuletzt gegen den Lärm der viel zu vielen begannen die alten Griechen einst zu denken.
Daran erst mag man wirklich ermessen, was mit uns inzwischen passiert ist. Der Oxford-Ton ist der allgemeinste Ton geworden, der Umgangston also. Jeder, der die Stimme hebt – außerhalb so fest umrissener Areale wie Kneipen, Fußballstadien oder Rockarenen –, muss mit erstaunten Blicken rechnen. Natürlich, die Werbung ist laut und das Fernsehen. Unsere Umwelt ist laut. Aber wir selber sind, dem Grundton nach, eher leise. Adorno hat einmal gesagt, die Menschen sind immer noch besser als ihre Kultur. Recht hat er.
Adorno zu zitieren, ist dieses Jahr durchaus zu empfehlen. Wir befinden uns nämlich schon seit über einer Woche im „Jahr der Geisteswissenschaften“. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat dieses bemerkenswerte Jahr ausgerufen. Normalerweise ruft das Ministerium nur naturwissenschaftliche Jahre aus. Aber nun ist dem Ministerium wohl etwas aufgefallen: Die Naturwissenschaft ist überall auf der Welt gleich, nur die Menschen sind immer noch erstaunlich verschieden. Und sie schlagen sich immer noch die Köpfe ein, manchmal sogar, weil einer dem anderen nicht glaubt, dass Muktada ein direkter Nachfahr des Propheten ist. Und sie verfluchen Hinzurichtende. Es gibt schon eine seltsame Allianz zwischen der ältesten, quasi-metaphysischen Taktlosigkeit und der spezifischen Taktlosigkeit der modernsten Technik, die quasi-demokratisch alles mitschneidet und alles öffentlich macht. Sage niemand, dass solche Übereinkünfte kein Thema für die Geisteswissenschaft sind.
Vom Bundesministerium stammt auch das Motto dieses Jahres: „Die Geisteswissenschaften – ABC der Menschheit“. Das ist natürlich ein völlig sinnfreies Motto. Aber immerhin sollen die Geisteswissenschaften aus einem europäischen Sondertopf 623 Millionen Euro bekommen, die sie nur noch mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften teilen müssen. Bei 623 Millionen lässt sich jedes Motto aushalten. Dafür kann man auch ruhig „Verständigung (Kommunikation)“ erforschen, „insbesondere innerhalb der eigenen und mit fremden Kulturen“. Und warum sich nicht bemühen, Verständigung auch zu befördern?
Obwohl das doch schwer ist. Das Bundesministerium weiß das nicht, aber Geisteswissenschaftler sind die, die immer schon zu spät kommen. Wenn sie welche sind. Sie sind keine Vor-Denker, sondern Nach-Denker. Das passt nicht in unsere Zeit, das passt nicht einmal mehr so richtig an die Universitäten, es ist aber trotzdem eine Tugend.
Passend zum „Jahr der Geisteswissenschaften“ ist soeben ein Buch erschienen: „Warum Denken traurig macht“ von George Steiner. Denken meint natürlich nichtnaturwissenschaftliches Denken, oder wie Heidegger und Adorno in bemerkenswerter Übereinstimmung sagten: Die Wissenschaft (Naturwissenschaft) denkt nicht. Deshalb macht sie auch nicht traurig; das Denken dagegen, wie gesagt, schon. Und das liegt an seiner spezifischen Ergebnislosigkeit. Eine geisteswissenschaftliche Erkenntnis ist eine, auf die man immer schon vorbereitet sein muss.
Man kann einem anderen Menschen nicht sagen, dass er leiser sprechen soll. Es liegt immer eine Distanzierung von seinem absichtslosen So-Sein darin, es ist eine Taktlosigkeit, eine Kränkung. Und wie bei den Menschen ist das bei Völkern. Lakonie ist leise; lakonische Völker können sich die Absenkung des Tons leisten, denn sie bilden moderne, also nichtfluchende, nachmetaphysische Gemeinschaften. Man kann auch niemandem erklären, dass er während des Exekutierens nicht fluchen soll und dass er am besten gar nicht erst exekutieren soll. Man kann einfach – in den Bereichen der wesentlichen Erkenntnis – niemandem etwas Neues sagen. Nicht einmal sich selber. Auch das macht die spezifische Traurigkeit des Denkens aus. Und die feiern wir jetzt?
Fotohinweis:Kerstin Decker lebt als freie Publizistin in Berlin.