Geld oder Leben

Wenn der Krebs bei den Armen zuschlägt: „Die Ärzte sagen den Müttern dann, lass das Kind sterben, mach lieber ein neues“

Aktionstag: Der Welt-Krebstag am Freitag, 4. Februar wird seit 2007 von der Welt-Krebsorganisation (UICC) ausgerufen. Viele der mehr als 300 Mitgliedsorganisationen aus mehr als 100 Ländern – darunter auch die Deutsche Krebshilfe – beteiligen sich an diesem Aktionstag. Weltweit wird bei mehr als 12 Millionen Menschen jährlich Krebs diagnostiziert.

Dunkelziffer: Die Zahl der nicht erkannten Fälle vor allem in den Entwicklungsländern wird auf ein Vielfaches geschätzt. Statistisch gesehen, trifft es jeden dritten Europäer im Laufe seines Lebens. Die Tendenz ist steigend.

Therapie: Während die Überlebenschancen in Deutschland bei immerhin knapp 60 Prozent liegen, stellt sich die Situation in vielen Teilen der Welt oftmals dramatisch anders dar. Auch in Moldau kommt die Diagnose Krebs nicht selten einem Todesurteil gleich. Zwar gibt es seit 2004 eine gesetzliche Krankenversicherung, doch die garantiert kaum mehr, als dass man überhaupt in einem Krankenhaus aufgenommen wird. Gut 100 Euro stehen pro Jahr, so Vizegesundheitsminister Gheorghe Turcanu, für die Gesundheitsversorgung jedes einzelnen Bürgers zur Verfügung. Im Durchschnitt. In Deutschland ist es etwa dreißigmal so viel. Die Lebenserwartung beträgt in Moldau 68 Jahre, etwa 12 Jahre weniger als im nur zwei Flugstunden entfernten München.

AUS CHISINAU JÖRN KLARE

Die Kinderstation der einzigen Krebsklinik der Republik Moldau ist frisch renoviert. Das Geld dafür kam, so verrät es eine Werbebotschaft, von einem Mobilnetzanbieter. Decke und Wände strahlen in hellen Farben. Doch das freundliche Bild täuscht. Aus einem Zimmer dringen die gequälten Schreie einer kleinen Patientin. Irina hört darüber hinweg. Sie ist 33 Jahre alt, trägt einen dunklen Jogginganzug und hat die roten Locken zu einem Pferdeschwanz gebunden. „Das Leiden gehört hier dazu“, sagt sie, „und der Tod auch.“ Neben ihr im Bett liegt stumm und blass die dreijährige Tochter Bianca. Sie hat Leukämie.

Irina erzählt vom ersten Verdacht vor einem Jahr, von der Diagnose, dem Schock und dem langen Kampf um Biancas Leben. Es begann mit einer Chemotherapie und schrecklichen Schmerzen. Die Ärzte eröffneten den Eltern, dass sie eine andere, viel teurere Medizin kaufen müssten, wenn Bianca leben soll. „Wir wollen das Beste für unser Kind“, sagt Irina. Ihr Mann arbeitet für eine ausländische Firma. „Wir sind privilegiert, wir konnten die 2.000 Dollar auftreiben.“ Nun sieht es nach neun Monaten in der Klinik tatsächlich so aus, dass die gerade eingeschlafene Tochter überleben wird.

Irina schaut verstohlen zu den anderen Müttern, den anderen Kindern. „Die müssen die Medikamente nehmen, die es umsonst gibt, obwohl die Kinder die Medizin oft gar nicht vertragen. Sie können sich nichts anderes leisten.“ Das Zimmer ist eng und karg, aber sauber. Vier Kinder leben hier oft schon seit Monaten mit ihren Müttern, mit denen sie das Bett teilen müssen. „Es gibt nicht genug Platz“, sagt Irina. Einige Patienten sind schon 16. „Deren Mütter sitzen dann die ganze Nacht am Fußende und hoffen, dass die Nacht bald vorübergeht.“ Plötzlich kommen ihr die Tränen. „Ich kann nicht mehr“, flüstert sie.

Dr. Eleonora Pintea kennt das. Die Erschöpfung ist ihr Alltag. Die 38-jährige zierliche Frau ist eine der beiden Stationsärztinnen. Im Monat verdient sie 200 Dollar. „Das reicht“, sagt sie, „zum Überleben, für mehr nicht.“ Meist kann sie, wenn überhaupt, den Kindern nur die billigsten Medikamente anbieten, die auf dem Weltmarkt zu bekommen sind. Produkte aus Indien, Pakistan oder Vietnam, bei denen sie oft nicht einmal weiß, ob sie überhaupt einen Wirkstoff enthalten, von den Nebenwirkungen ganz abgesehen. „Aber vor ein paar Jahren“, so betont sie, „hatten wir nicht einmal die.“ Eleonora Pintea weiß, dass viele Eltern mit der privaten Finanzierung besserer Medizin überfordert sind. „Wenn das Geld fehlt, können wir nur warten, bis das Kind stirbt.“ Die Ärztin weiß auch, wie das klingt, macht eine Pause, sagt, dass sie sich einfach nicht daran gewöhnen kann. Diese Hilflosigkeit. „Ich kann das nicht in Worte fassen“. Die Situation der erwachsenen Krebskranken, sagt sie zum Abschied, sei noch schlimmer. Ein Trost sei das aber nicht.

Moldau liegt mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern zwischen Rumänien und der Ukraine am jenseitigen Rand der Europäischen Union und war bis 1991 eine vergleichsweise wohlhabende Unionsrepublik der Sowjetunion. Heute gilt es als das ärmste Land Europas. Das jährliche nominelle Bruttoinlandsprodukt ist mit gut 1.100 Euro pro Einwohner vergleichbar mit dem Boliviens, der Mongolei oder Sudans. Der Staatshaushalt beträgt etwa 1,5 Milliarden Euro. Das sind weniger als 2 Prozent vom Jahresumsatz des VW-Konzerns. Dazu kommt eine politische Dauerkrise. Auch die Wahlen Ende 2010 brachten kein zukunftsfähiges Ergebnis.

Den Mangel verwalten

„Wegen dieser Wahlen“, erklärt Klinikleiter Professor Viktor Cernat, „wurde das Budget der Klinik für das laufende Jahr noch gar nicht verabschiedet.“ Sogar die einfachsten Medikamente sind jetzt knapp. Cernat verwaltet den Mangel erst seit knapp einem Jahr. Sein Vorgänger sitzt im Gefängnis. Er soll gespendete Medikamente auf eigene Rechnung verkauft haben. Etwa ein Drittel der im Land benötigten Arzneimittel wird von ausländischen Hilfsorganisationen bereitgestellt.

Cernat ist für insgesamt 1.005 Betten verantwortlich. Nur ein paar Dutzend davon sind für Krebspatienten reserviert. Pro Jahr darf er etwa 1,6 Millionen Euro für Medikamente ausgeben. Ein Bruchteil dessen, was eine vergleichbare deutsche Klinik zur Verfügung steht. Gerade aber Krebskranke brauchen die teuersten Behandlungen. Schon eine einzige Therapie kann 100.000 Euro kosten. „Ohne Hilfe von außen“, sagt Cernat, „wäre die Katastrophe perfekt.“ Allein die deutsche Krebsallianz hat seit 2009 Medikamente im Wert von mehr als 5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Um zu entscheiden, welcher Patient überhaupt was bekommen darf, hat Cernat mit den Spezialisten der Fachbereiche ein Komitee gegründet. Es gibt verschiedene Kriterien, sagt der Professor, doch „wer über 70 ist, hat in der Regel keine Chance“.

Eine Fahrt durch die Hauptstadt Chisinau. 700.000 Menschen leben in der Hauptstadt. Ein paar mehr oder minder gut erhaltene historische Bauwerke, vor allem aber eine stalinistisch geprägte Stadtarchitektur mit breiten Ausfallstraßen zwischen Wohnblöcken in sozialistischer Plattenbauweise. Das Erdgeschoss im einstmals prächtigen Gebäude der Stadtverwaltung ist aus Geldmangel an ein Import-Export-Geschäft vermietet. Neben einer Euro-Credit-Bank verspricht eine gigantische Werbetafel ein besseres Leben mit der richtigen Einbauküche, während eine mit Lichterketten aufgepeppte Imbissbude zum Business-Lunch lädt.

Auf dem Rücksitz des alten Audis, den ihr Sohn um die Schlaglöcher herumkutschiert, sitzt Rodica Cerbov. Sie zeigt auf die ummauerten, protzigen Villenviertel neureicher Aufsteiger und kommunistischer Altkader und erklärt, dass einige der hochmodernen Shopping-Malls auch mit EU-Mitteln errichtet wurden und die dort erhältlichen westlichen Markenprodukte für den Normalbürger oft so unerschwinglich sind wie ein anderes, existenziell ungleich wichtigeres Gut: Gesundheit.

Also bekommt Anatol die Medizin, an die nicht einmal die Ärzte glauben

Cerbov, eine stur optimistische Ingenieurin Ende 40, hat vor 13 Jahren Coram Deo gegründet, eine kleine Hilfsorganisation, die mit der Deutschen Krebsallianz kooperiert. Ihr Ziel heißt Malaieshti Mici, ein kleines Dorf an der Grenze zum abtrünnigen Transnistrien. Die Straßen haben sich im Regen aufgelöst, hinter schiefen Bretterzäunen stehen schiefe Holzhäuser mit oftmals kaputten Fenstern. Es gibt keine Kanalisation, aber Strom, einen kleinen Laden und mehr Kutschen als Autos. Hier lebt Familie Malai. Vier schüchterne Kinder, zwei, fünf, sechs und acht Jahre alt. Eher scheu auch die Eltern IIina und Boris, beide 28 Jahre alt. Alle zusammen hausen sie in einem knapp 25 Quadratmeter großen Raum: zwei Betten, ein kaputter Schrank, ein Tisch, zwei Stühle. An der Wand klebt eine Art Paradies: eine Fototapete mit Sonne, Strand und Palmen. Eine absurde Verheißung im scharfen Gegensatz zur tatsächlichen Situation. „Es gibt keine Arbeit“, sagt Boris, „und ohne Arbeit kein Geld und ohne Geld kein Leben.“ Für eine Woche Schufterei auf einem der Felder bekommt er im Sommer umgerechnet 12 Euro. Das reicht für etwas Brot und Makkaroni, aber kaum noch für Socken für die Kinder. „Ich will hier weg“, sagt er, „schon solange ich denken kann. Aber es gibt keine Chance.“ Angeblich arbeitet bereits jeder vierte Moldauer im Ausland.

Beten statt helfen

Ilina streicht über eine Decke, darunter liegt der Zweitälteste, ein blonder, zarter Junge namens Anatol. „Selbst die Ärzte sagen mir“, so Ilina, „dass ihre Medikamente gegen seine Leukämie kaum helfen.“ Sie konnte nichts Besseres kaufen, kann es immer noch nicht und wird es, ohne dass ein Wunder geschieht, auch in Zukunft nicht können. Also bekommt Anatol die Medizin, an die nicht einmal die Ärzte glauben. Wenn es schlimmer wird, versuchen die Eltern, noch einmal irgendwo Geld zu leihen, um in die Klinik nach Chisinau zu fahren. „Für zwei Tage dort brauche ich mindestens 100 Lei für Transport, Essen und Medizin.“ 100 Lei sind etwa 6 Euro. Boris schaut immer noch auf den Boden. Seine Familie hat Hunger. „Es gibt hier keine Solidarität“, sagt Ilina noch. „Keiner hilft. Die meisten haben ja selbst nichts.“ Auch Cerbov ist ratlos. Sie bietet der Familie an, mit ihr zu beten.

Zurück in der Krebsklinik. Im Gang steht Viktor Daree, ein großer, kahlköpfiger Mann Mitte 30. Der promovierte Psychologe beschäftigt sich seit gut 10 Jahren mit der Situation der Schwerstkranken in Moldau. „Immer wieder“, sagt er, „bitten mich Ärzte, den Angehörigen beizubringen, dass ihr Kind sterben muss, weil die Rettung zu teuer ist.“ Jede zweite Familie steht hier vor der Frage: Geld oder Leben. „Etwa die Hälfte der Betroffenen“, so Daree, „kratzt alles zusammen, was sie auftreiben kann.“

Der Rest aber verzichtet auf weitere Investitionen, spart die knappen Mittel lieber für die Zukunft der gesunden Familienmitglieder. „Die Ärzte sagen den Müttern dann, lass das Kind sterben, mach lieber ein neues.“ Daree weiß genau, wie viel Geld in Moldau durchschnittlich für die Gesundheit eines Bürgers zur Verfügung steht. „Bei uns“, sagt er, „ist ein Leben 100 Euro wert.“