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Archiv-Artikel

Diese Autorin gibt sich und uns das volle Programm

SELBSTFINDUNG Cut-ups auf glühenden Kohlen: Kathy Ackers „Meine Mutter: Dämonologie“ in einer verdienstvollen Neuausgabe

Die US-amerikanische Schriftstellerin Kathy Acker starb 1997 an Brustkrebs. Ihr Buch „Meine Mutter: Dämonologie“ ist in der deutschen Erstausgabe kurz nach ihrem Tod im legendären Berliner Maas Verlag erschienen. Dann war es lange vergriffen. Was für ein Glück, dass der österreichische Milena Verlag sich nun dazu entschlossen hat, diese wunderbare Übersetzung von Ackers „bestem Werk“, wofür es der Herausgeber Thomas Ballhausen hält, neu aufzulegen.

Kathy Acker ist eine der Ikonen des Cut-ups, des Collagierens von eigenen und fremden Texten. Die im Stile eines Tagebuches ihre Cut-ups herumwirbelt und zu einem vielschichtigen Spiegel der Gesellschaft und ihrer selbst verarbeitet und sie so anordnet, als hätten sie von Anfang an genau so aufgeschrieben werden müssen. Kathy Acker ist Punk, Kathy Acker ist ein Enfant terrible, Kathy Acker ist politisch, intensiv und unbequem. Und das ist auch ihre Protagonistin: Kompromisslos lebt sie ihr Begehren, erbarmungslos ist ihr Blick hinter die Lügen der Geschlechterrollen und die der bourgeoisen Familie. Die Aktualität des Buches ist sowieso erstaunlich; der Nahostkonflikt und Afghanistan werden so abgehandelt, dass man verwundert nochmal auf das Erscheinungsdatum schielen muss. Wie wenig sich geändert hat!

Im Kern jedoch verwendet Acker die historisch verbürgte Beziehung zwischen Colette „Laure“ Peignot und Georges Bataille als Anker, um von Zuneigung und Einsamkeit zu erzählen. Sie bricht die Geschlechterrollen auf, seziert das Männliche und das Weibliche unablässig und lässt beide aufeinanderprallen. Sie macht daraus die Geschichte eines werdenden Menschen, der mit dem Werden nicht mehr aufhört, eine Geschichte der Selbstfindung eines modernen Menschen, der den Kampf mit der Bequemlichkeit, die es bedeutet, Erklärungsmuster wiederzukäuen, nicht scheut.

Laure ist auch der Name der Protagonistin, die erst im Laufe des Textes zu einem Ich heranreift. Versucht sie anfangs noch, sich selbst erst einmal komplett zu verlieren, um sich mit leeren Händen neu erschaffen zu können, arbeitet sie sich dann ab an ihrer Beziehung zu „B.“, was aber nicht wirklich gelingen mag. Sie kommt an einen Punkt, an dem ihr klar wird, dass sie ihr Ich nicht über die Beziehung zu jemand anderem erlangen kann.

Kathy Acker schickt Laure über glühende Kohlen, sie muss ihre politische Identität finden, erfährt Missbrauch und Schmerz, Stärke und Glück. Wer die harte Sprache und das Gewitter der Extreme heute noch als Provokation versteht, den trifft es zu Recht. Kathy Acker haftete der Ruf der Rebellin an, sie wollte sich auch in ihrem eigenen Leben fortwährend spüren. Um etwas zu spüren, reicht für jemanden wie sie kein sanftes Hin- und Hergeschaukel, sie gibt sich und uns das volle Programm. „Meine Mutter“ sollte damals vielleicht aufrütteln, heute kann es uns helfen, wach zu bleiben, uns selbst zu finden, oder auch einfach dabei, uns an unser Selbst zu erinnern.

„Meine Mutter“ kommt ohne müdes Herumpulen in Körperöffnungen und ohne spätpubertäre Mascara-Ergüsse aus. Und ist ein großartiges Beispiel dafür, wie der verlegerische Mut, dessen es heutzutage bedarf, einen von der Bildfläche verschwundenen Titel wieder aufzulegen, sich auszahlen kann; zumindest für den Leser. ULF SCHLETH

Kathy Acker: „Meiner Mutter: Dämonologie“. Aus dem Englischen von Lotte Dreimann und Angela Rummel. Milena Verlag, 2010, 296 Seiten, 26 Euro