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Archiv-Artikel

crime scene Willkommen, bienvenue, welcome: Louise Welshs „Der Kugeltrick“ führt ins Berlin der Zwanzigerjahre

Eigentlich ist Louise Welshs „Der Kugeltrick“ kein Berlin-Krimi, sondern ein Thriller um einen Zauberkünstler, der sich durch sein beträchtliches berufliches Geschick allerhand Ärger einhandelt, ohne wirklich dafür zu können. Doch in diesem Roman, in dem die Schauplätze ein geheimnisvolles Eigenleben zu führen scheinen, übernimmt Berlin definitiv eine Starrolle. So morbide schillernd, reizvoll verdorben, düster und etwas unheimlich ist es schon lange nicht mehr porträtiert worden.

Der morbide Glamour hat mit dem Berlin von heute zwar nichts zu tun, ist aber dennoch ein vertrautes Image, mit dem die Stadt in der Vergangenheit sehr reüssieren konnte. Die Roman-Metropole gemahnt an den mythischen Moloch von vorvorgestern: die Hauptstadt der Weimarer Republik, in der das wahre Leben sich nachts in dunklen Kaschemmen und frivolen Cabarets abspielte. Zumindest haben Literatur und Kunst das immer glauben machen wollen. Welsh legt ihre kulturhistorische Inspiration freimütig offen: Eine der Schlüsselfiguren heißt „Onkel Dix“, und viele Details sind deutlich von Christopher Isherwoods Roman „Goodbye to Berlin“ (der literarischen Vorlage des Musicals „Cabaret“) inspiriert. Doch was Louise Welsh vor dieser geliehenen Kulisse entwickelt, hat ganz eigene Klasse.

William Wilson, ein talentierter, doch wenig erfolgreicher Magier, lässt sich bei einer Veranstaltung in London überreden, unter Einsatz seiner Taschenspielerkünste einem hohen Polizeibeamten einen Umschlag aus dem Jackett zu stehlen. Dieser kleine Job kostet zwei Menschen das Leben und macht den Zauberer zu einem Gejagten. Ohne es zu wollen, ist William nun im Besitz von etwas sehr Gefährlichem: einem harmlos aussehenden Foto zweier Männer, von dem er nur weiß, dass jemand über Leichen geht, um es wiederzubekommen. So ist er erleichtert, als ein Engagement nach Deutschland ihm einen Grund gibt, das Land zu verlassen. In Berlin lernt er die Amerikanerin Sylvie kennen und macht sie zu seiner Assistentin – zu dem Mädchen, das auf der Bühne zersägt wird. Da William die üblichen Tricks mit einer sadistisch-sexistischen Bühnenshow aufpeppt, haben die beiden großen Erfolg, ziehen jedoch auch ein mitunter seltsames Publikum an, was den mysteriösen Onkel Dix zu einer ungewöhnlichen Geschäftsidee inspiriert …

Welsh entwickelt zwei im Grunde komplett voneinander unabhängige Plots, die geschickt narrativ miteinander verbunden werden. Sowohl die Londoner als auch die Berliner Geschichte erzählt William rückblickend, wobei die Geschehnisse sich emotional vermengen in einer Mischung aus Todesangst und tödlichen Schuldgefühlen. Denn in Berlin hat sich etwas ereignet, das so schrecklich sein muss, dass wir die Art dieser Schuld lange Zeit nur ahnen dürfen.

Zurück im heimatlichen Glasgow, zum Zeitpunkt des Erzählens, ist William am absoluten Tiefpunkt. Passend dazu wird das Glasgow des Romans als üble Stadtbrache gezeichnet, bevölkert von menschlichen Randexistenzen, die einander mit dem größtmöglichen Misstrauen begegnen und sich dennoch in billigen Pubs zusammendrängen, um die Angst vor dem nächsten Tag mit Unmengen an Alkohol zu betäuben. In diesem Endzeitszenario kulminiert Handlung Nummer eins zu ihrem Höhepunkt, während wir auf die Auflösung von Handlung Nummer zwei noch ein wenig länger warten müssen. Als sie endlich kommt, ist es nach der enormen vorangegangenen Spannung fast so, als hätte man es gar nicht anders erwartet. Doch dass auch dieser Thriller mit einem billigen Trick endet, weist ihn eben als wahren Vertreter seines Genres aus. Es ist jedenfalls nicht ganz einfach, mit dem Gefühl der Entzauberung fertigzuwerden, das sich einstellt, wenn man nach Ende der Lektüre wieder in den Alltag geworfen ist. KATHARINA GRANZIN

Louise Welsh: „Der Kugeltrick“. Aus dem Englischen von Ruth Keen. Verlag Antje Kunstmann, München 2006, 398 Seiten, 19,90 Euro