LESERINNENBRIEFE
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Grauer Fleck im Bunten?

■ betr.: „Wir Gentrifizierer“, taz vom 30. 6. 14

Mit einem Artikel von Hannah König widmet die taz dem Festival „48 Stunden Neukölln“ einen Bericht. Der Organisator Thorsten Schlenger wird zitiert. Man will mehr sein als „nur eine Bespaßungsaktion“, und „Kunst muss die soziale Interaktion suchen und braucht immer eine Anbindung an die Realität, mit der sie konfrontiert ist“. Ganz allgemein und geradezu abstrakt erklingen kritische Töne zu der Entwicklung des Stadtteils: „Mieten steigen“. Ich lese also: Jaja, das mit den Mieten ist schlimm, im Foto sehe ich sogar eine vertriebene Neuköllner Künstlerin vor ihrer ausgestellten Arbeit. In demselben Satz geht es weiter: „… die Party- und Kreativszene blüht“. – Party- und Kreativszene ist wiederum in der taz (zumindest in den Artikeln, die ich in den letzten Jahren zu diesem Thema gelesen habe) insgesamt positiv besetzt. Was hier auf das bekannte und unkonkrete Pro und Kontra zu den aktuellen Entwicklungen des Stadtteils hinauszulaufen scheint, erhält doch gegen Ende des Artikels eine sehr bedenkenswerte Wendung. Im vorletzten Absatz wird eine Rauminstallation der Künstlerin Hadmut Bittiger vorgestellt: „… hatte die Künstlerin eine lange Reihe grauer Pflastersteine durch den Mittelgang der Kirche gelegt: grau und langweilig – so war Neukölln früher für Bittiger.“ Hier fehlt allerdings die oben gewünschte Anbindung an die Realität. Vielleicht kannte Frau Bittiger Neukölln früher ja gar nicht? Doch auch Unkenntnis rechtfertigt es nicht, einen ganzen Bezirk in dieser Form öffentlich in pauschaler Weise zu beurteilen.

Die Vielfalt der Menschen, Ideen und Geschichten, die es gab, bevor dank der gentrification viele Menschen den Bezirk verlassen haben, ist in Neukölln verschwunden. Eine Vielfalt, die im Allgemeinen von dem Motto „Leben und leben lassen“ geprägt war und größte Differenzen in den Lebensformen auf kleinstem Raum existieren ließ. Der Fortgang des Artikels zeigt mir jedoch: Diese Vielfalt meint Frau Bittiger nicht. „In ihren Steinweg hatte die Künstlerin deshalb viele kleine Lautsprecher eingebaut. Hinter jedem Lautsprecher verbarg sich ein Interview mit einem der vielen Laden-, Café- und Galeriebesitzer des Bezirks. Je mehr Interviews der Besucher aktivierte, desto bunter und lauter wurde das Stimmengewirr. Die Vielfalt der Menschen, Ideen und Geschichten – das ist es, was Neukölln heute ausmache, so Bittiger.“

Zumindest hätte die Künstlerin etwas respektvoller davon sprechen können, dass eine Vielfalt möglicherweise durch eine andere ausgetauscht wurde. In ihrer Darstellung jedoch wurde ein grauer und langweiliger Bezirk nun von außen, also durch diejenigen, die hier einen Markt gefunden und ihre Geschäfte eröffnet haben, beglückt und so zur Kunst und Frau Bittigers Vorstellung von Vielfalt gebracht. Soll ich als Teil des „Grauen und Langweiligen“, also als „Graue und Langweilige“, die schon länger in Neukölln verweilt und noch immer als grauer Fleck im Bunten verharrt, nun dankbar sein, dass jene „Bunten“ es uns hier so schön gemacht haben? Frau Bittiger, Ihr Grau war für mich nicht grau, und ich habe niemanden gebeten, mich von diesem scheinbaren Grau zu befreien. Diese Befreiung war für mich nicht freiwillig, sie kam einfach, ich hatte darauf keinen Einfluss. GERTRUD SCHRADER, bildende Künsterlin, lebt und arbeitet seit 1994 in Berlin-Neukölln

Anderes verhindert

■ betr.: „taz verliert vor Gericht. Presse darf nicht in die Schule“, taz.de vom 2. 7. 14

Typischerweise soll durch die Verhinderung der Anwesenheit von Presse ganz anderes verhindert werden …

GUIDO F. GEBAUER, taz.de

Ansturm blieb aus

■ betr.: „Jetzt ist Goliath dran“, taz.de vom 3. 7. 14

Wie heißt es euphemistisch auf Neudeutsch: Wirtschaftsflüchtling. Früher hätte man noch Armutsflüchtling gesagt, aber das passt nicht mehr ins Bild. Uns geht es hier so gut, zumal in der Krise, da kann es in anderen Ländern nicht so viel schlechter sein. Wenn die sich dort kein iPhone leisten können, sollten sie gefälligst dort bleiben.

Und natürlich droht der große Ansturm auf unser gesegnetes Wohlstandsland, analog zum neuerlichen Ansturm aus Bulgarien und Rumänien. Wie nannten wir die noch gleich? Sozialtouristen oder so. Ausgeblieben ist der Ansturm dennoch. Übrigens passt es ins Bild dieser Tage, dass unser ehemaliger „Entwicklungsminister“ nun dafür sorgen wird, dass Waffen vermehrt wohl auch in afrikanische Staaten verkauft werden (sollen). SAPASAPA, taz.de

SPD hat Verantwortung

■ betr.: „Immerhin, ein Papier“, „Die Verhandlungen werden fortgesetzt“, taz vom 4. 7. 14

Bisher richtet sich die Wut der Flüchtlinge und der Supporter verständlicherweise auf die Grünen. „Nie wieder Grüne“-Sprechchöre bringen den Protest an dieser Stelle jedoch nicht weiter. Ein humanitäres Bleiberecht nach § 23 Aufenthaltsrecht muss auf Landesebene erteilt werden. Hier wird die Law-and-Order-Linie Henkels von einem eisigen Schweigen der SPD flankiert. Damit muss endlich Schluss sein.

Der Protest muss die Berliner SPD viel stärker in die Verantwortung nehmen. Wowereit darf sich nicht weiter hinter Henkel verstecken. Die SPD muss sich eindeutig zu § 23 Aufenthaltsrecht positionieren und Druck auf Innensenator Henkel ausüben.

Und um von vornherein allen Zuständigkeitsrechtfertigungen den Wind aus den Segeln zu nehmen: Wowereit ist nicht auf Henkels CDU angewiesen. Er kann das rot-schwarze Trauerspiel auch endlich beenden und das Zepter an eine neue rot-grüne Regierung abgeben. Diese müsste dann zeigen, ob sie zu ihren Versprechungen steht oder ob die „Nie wieder Grüne“-Rufe gerechtfertigt sind.

LUKAS SCHULTE, Berlin