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Archiv-Artikel

Handwerksmeister der taktischen Fouls

BRASILIEN Die schwere Verletzung Neymars, die ihm von einem kolumbianischen Spieler zugefügt wurde, wird die Seleção nicht echt schwächen. Von rüden Spielern wie Hulk, Luiz Gustavo und David Luiz hängt es ab, ob die Gastgeber es ins Finale schaffen

VON PETER UNFRIED

Der naheliegende Gedanke ist selbstverständlich, dass es sich beim WM-Halbfinale Brasilien gegen Deutschland am Dienstag um ein episches Spiel handelt. Die beiden erfolgreichsten Teams der WM-Geschichte treffen aufeinander, also tut es das. Vor allem aber wird es knüppelhart, und das womöglich im wahrsten Sinne des Wortes. Luiz Felipe Scolaris Seleção hat beim 2:1 gegen Kolumbien im Viertelfinale von Fortaleza wohl auch den letzten Realitätsverweigerern gezeigt, dass das moderne Brasilien eben nicht das Leben feiert, sondern das Überleben.

Aus brasilianischer Sicht war der Sieg ein beeindruckender Mix aus Organisation, existenzieller Power und Psychologie. Die Seleção hat Kolumbien mit dieser Mixtur in der ersten Viertelstunde dermaßen den Schneid abgekauft, dass sich die vorher veränderten Rollenbilder beider Teams sofort wieder umkehrten. Kolumbien hatte sich nach einem überzeugenden Turnierverlauf als leichter Favorit fühlen können, aber nach wenigen Minuten war Brasilien wieder Weltmacht und José Pekermans Team die Würstchen von jenseits der nordwestlichen Landesgrenze. Von diesem psychologischen Twist erholte sich der Weltranglistenvierte nicht mehr.

Im Halbfinale wird aber nun ja nicht nur der gesperrte Kapitän Thiago Silva fehlen, sondern auch ihre Kreativquelle Neymar, der mit einem Lendenwirbelbruch aus dem Turnier ausgeschieden ist.

Neymar, 22, ist beim FC Barcelona einer von vielen Stars hinter Lionel Messi. Aber in Brasilien ist er nationalpsychologisch der omnipotente Spieler, von dem alles abhängt, was sich in der Vorrunde auch auf dem Feld zu bestätigen schien. Die Härte des Spiels traf Neymar, was für den großartigen Fußballer eine Tragödie ist. Aber man muss auch sagen dürfen, dass es eine Härte war, die von den Brasilianern ausging und die auf sie zurückfiel. Im Grunde war die spielentscheidende Härte jene, mit der die Seleção den potenziellen kolumbianischen Spielentscheider James (sprich: Chames) immer wieder zu Boden brachte, zermürbte und damit Kolumbiens Spielaufbau erstickte.

Selbstverständlich ist nun das dominierende Thema in Brasilien, ob man ohne Neymar Weltmeister werden kann. Nach dem ersten Schock hat man sich auf die naheliegende Denkweise geeinigt: Ja, man muss im Grunde sogar, um ihm den Titel widmen zu können. Und ist man 1962 nicht sogar ohne Pelé Weltmeister geworden? (Ja, aber da hatte man Garrincha.)

Die entscheidende psychologische Frage ist, ob das Team und das Land damit vielleicht doch noch einen Ausweg aus ihrem lähmenden und destruktiven Zwang zum Titel gefunden haben – und ob das tatsächlich befreit oder bereits als Entschuldigung für ein Scheitern abgespeichert ist.

Das Viertelfinale war jedenfalls ein Indiz, dass Brasilien ohne Neymar keinesfalls so verloren ist, wie es manchen scheint. Scolari hatte das spielerisch limitierte oder sich selbst limitierende Team auf den Tempodribblings Neymars aufgebaut. Aber eben längst nicht nur. Das Spiel entschieden haben die anderen Zutaten der brasilianischen 2014er Mischung: Physis, Power, Standards und auch strategische Fouls. Es ist kein Zufall, dass die beiden Innenverteidiger jeweils nach Standards die Tore machten. Thiago Silva nach einem Eckball-Zuteilungsfehler von Kolumbiens Abwehr; David Luiz mit einem Freistoß, bei dem Torhüter Ospina falsch stand.

Die gesteigerte Konsequenz und Power der Seleção führte auch dazu, dass Brasilien erstmals eine Halbzeit lang richtig dominant wirkte – und das gegen einen spielerisch überlegenen Gegner. Dieses Brasilien, das wir gesehen haben, wird eben nicht von Neymars technischen Finessen personifiziert, sondern von dieser beeindruckenden Körperlichkeit, für die Innenverteidiger David Luiz und Rechtsaußen Hulk stehen. Bei Letzterem ist sie dermaßen übersteigert, dass sie ins Slapstickartige tendiert. Dazu kommt im Halbfinale wieder Luiz Gustavo, der Handwerksmeister der taktischen Fouls.

Das Symbolbild, das, aus Fortaleza kommend, das WM-Halbfinale prägen wird, ist nicht der auf einer dieser schrecklichen Bahren abtransportierte Neymar. Es ist das Gesicht des Torschützen David Luiz nach dem 2:0. Das ist nicht Freude, das ist auch nicht nur Erleichterung, das ist irgendetwas aus Angst, Schmerz und Entschlossenheit. Da ist nichts, aber auch gar nichts Spielerisches mehr. Als sei der Teufel hinter ihm her, aber er bereit, sich ihm zu stellen.

Das ist gespenstisch, und deshalb müssen die Fußballfreunde dieser Welt am Dienstag im Halbfinale auf alles gefasst sein. Nur auf eines definitiv nicht: ein schönes Spiel.