: Hauptsache, es kracht
VON ANGELIKA STAUB
Für ihre Pflegekasse ist Anke Kurzmann „schwerstpflegebedürftig“. „Multiple Sklerose“, lautet die Diagnose, Pflegestufe drei. Die kräftige, breitschultrige Bonnerin sitzt im Rollstuhl. Dennoch spielt sie Rugby, Rollstuhl-Rugby, mindestens zwei Abende in der Woche. Die 33-Jährige trainiert beim Kölner Rollstuhlsportclub (RSC).
„Rugby“, schon alleine das Wort lässt Anke Kurzmanns Gesichtszüge aufhellen. Ihre höfliche Zurückhaltung ist dahin, in kürzester Zeit schwärmt sie. Nicht von Schulterpolstern, eiförmigen Bällen oder einem hundert Meter langen Spielfeld, sondern von umgerüsteten Rollis mit metallener „Knautschzone“ und schräg montierten Rädern. Sie stehen unten weit ab, zur Vermeidung von Handverletzungen bei Crashes.
Die außergewöhnliche Disziplin im Behindertensport bringt Anke Kurzmann auf andere Gedanken, raus aus der Spirale von Therapien, Medikamenten und Ärzten. Begeistert erzählt sie: „Rugby ist das erfrischende Andere in meinem Leben.“ Neben dem richtigen Sportgefährt braucht man nur noch einen Volleyball, ein Basketballfeld und zwei Mannschaften mit je vier Spielern. Los geht‘s. Kurzmann ist Stürmerin, eine mit Biss. „Auch im Alltag stürme ich manchmal voraus.“
Rugby für behinderte Menschen wurde in Kanada erfunden, in den Siebzigerjahren. Von dort kommt auch das ungewöhnlich strenge Reglement. Es soll vor allem Querschnittsgelähmten gerecht werden. Wer mitspielen will, muss „wenigstens an einem Arm behindert sein“ und natürlich im Rollstuhl sitzen. Je nach Schweregrad der Behinderung werden die Spieler bewertet. Das Punktesystem reicht von 0,5 bis 3,5. Je eingeschränkter, desto weniger Punkte. „Du brauchst aber die niedrig punktierten Spieler“, erklärt Kurzmann. Das Team auf dem Feld darf nach nationalen Kriterien maximal sieben Punkte zählen. Die Sportlerin hält kurz inne. „Ich finde es faszinierend: Selbst wer im Alltag durchfällt, kann im Rollstuhl-Rugby eine tragende Rolle übernehmen.“
Ihre Blicke gleiten von ihrem Wohnzimmer nach draußen. Es regnet. Mühsam hebt Anke Kurzmann die Kanne vom Stövchen. Sie schenkt sich Tee ein. Dabei ist ihre ganze Aufmerksamkeit gefragt. Kaffee steht ebenfalls da. Auch den hat die junge Frau selbstständig aufgebrüht und zum Esstisch gebracht. Zum An- und Ausziehen hingegen braucht sie schon Hilfe, auch zum Duschen. Stehen ist nur in ihrer Erinnerung noch möglich. „Rugby“, erzählt Anke Kurzmann, „ist kein Heilmittel.“ Doch schon kehrt das Lächeln in ihr Gesicht zurück. In Gedanken ist sie längst in der Kölner Turnhalle angekommen. Die krausen Haare mit einem Tuch bändigen lassen, den Rollstuhl wechseln, ein Leibchen überstreifen – und ab geht die Post. Kein Sport für schwache Nerven, denn Rollstuhlkontakt ist angesagt, will man dem Gegner das eigene Spiel aufzwingen. Entsprechend kracht und scheppert es. Hin und wieder fällt schon mal ein Rollstuhl mitsamt Spielerin um. Kein Problem, winkt Kurzmann cool ab. Durch die Fixierung des Körpers am Sportgefährt sei das Verletzungsrisiko vergleichbar gering. Auch im Rollstuhl-Rugby zählt, einen Tick schneller zu sein als die verteidigende Mannschaft, die sonst mit ihren wuchtigen Rollis den Weg zur gegnerischen Linie versperrt.
„Rugby ist Taktik“, räumt Kurzmann mit Klischees auf. Es fällt gar der Vergleich mit Schach. „Man kann viel machen, auch gegen stärkere Mannschaften.“ Ihr Tipp: „In der Defense gut stehen, 15 Sekunden den Gegner im Rückfeld halten, Ball gewonnen“. So oder ähnlich meisterte Anke Kurzmann auch die ersten Turniere mit dem im Rollstuhl-Rugby weltweit ersten Damen-Nationalteam, das sie gemeinsam mit einer Freundin im vergangenen Sommer gegründet hat. „Wir waren ausgehungert“, erinnert sie sich. Wie ein Kaugummi habe sich die trainingsfreie Zeit dahin gezogen.
Was tun? Spontan trommelte die Bonnerin aus dem ganzen Bundesgebiet Gleichgesinnte zusammen, um zum Sommerturnier nach Polen zu fahren. Die Gegner des frisch gebackenen Damenteams waren Mannschaften aus ganz Europa – von Herren dominiert. Trainingslager und weitere Turniere folgten. Der einzige Haken daran: Geht Kurzmann auf Reisen, nach Paderborn, Koblenz, Osnabrück, Berlin oder ins europäische Ausland, so muss auch ihr Rugby-Rolli mit, zudem eine Begleitperson zur Hilfestellung außerhalb des Spielfeldes. Damit zahlt die Frührentnerin mindestens die doppelten Fahrt- und Hotelkosten. Dennoch resümiert sie freudestrahlend: „Durch Rugby ist mein Alltag viel anregender geworden.“
Anke Kurzmann balanciert ein Stückchen Baumkuchen auf ihren Teller. Behutsam nimmt sie die kleine Gabel in die Hand. Da stürmt Artur, ihr Sohn, ins Zimmer: „Will jemand eine Nuss?“ Zeit für eine Antwort bleibt nicht. Mit einem Nussknacker bewaffnet drängt der Sechsjährige: „Ja? Welche?“ Seine Mutter schmunzelt und lässt sich eine Walnuss knacken. Auch für den Alltag als allein erziehende Mutter gebe ihr der Sport die nötige Kraft, sagt sie. Und wenn Artur mit zu Spieltagen fährt, sei das immer ein „familiärer Zugewinn“. Der Sechsjährige ist der größte Fan seiner Mutter. Allerdings kennt die kindliche Liebe zum Rugby auch Grenzen, zumindest beim Traumberuf. Artur will „Lokomotivführer“ werden. Einer, der „Tag und Nacht“ arbeitet, mal in der Lok, mal an den Gleisen.
Anke Kurzmann hat als Schreinerin gearbeitet. Schon früher bestimmte der Sport ihre Freizeit: Volleyball, Basketball, Jogging. Dann, vor wenigen Jahren, kam die Diagnose, bald danach der Rollstuhl. Für Anke Kurzmann brach ihre sportliche Welt zusammen. „Ich fühlte mich in meinem Körper gefangen.“ Kein Ventil weit und breit in Sicht, bis die Bonnerin den Kölner RSC entdeckte.
Vor gut zwei Jahren fuhr sie zum Probetraining. „Es war der 18. November 2004, eine Woche vor meinem Geburtstag“, weiß sie noch genau. Ihre Augen wandern zurück in die Turnhalle. Dorthin, wo sie zum ersten Mal im Rugby-Rollstuhl saß. Auf den ersten Metern schob sie die Räder noch zaghaft an, dann kräftiger, noch kräftiger, bis sie schließlich quer durch die Turnhalle „flitzte“. Der glatte Boden sowie das Sportgefährt faszinierten sie. „Es war wie für einen Blinden das Aufwachen nach erfolgreicher Augenoperation.“ Sie hätte im Club auch Basketball spielen können, doch „da darf es nicht krachen“.
Stille kehrt ein. Selbst der Regen draußen hält inne. Plötzlich vibrieren die dünnen Gitterstäbe am Käfig der Meerschweinchen. Turnstunde? Katze Pink interessiert das nicht im Entferntesten. Auch Floyd, Anke Kurzmanns Hund, bleibt friedlich auf seiner Matratze in der Ecke liegen. Die junge Frau erzählt von der ersten Rugbystunde ihres Lebens. Mit „Super, du sitzt im Rollstuhl, dann kannst du mitspielen“, sei sie damals begrüßt worden. Mitleid, Depression – weit gefehlt. „Es geht um Sport, Sport und Sport“, sagt Anke Kurzmann mit entschlossener Stimme. Sie verschränkt die Arme und atmet tief durch. „Rugby, das ist das Schlimmste, was ich meiner Mutter antun konnte.“ Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Arturs Oma schmerze schon allein beim Zuschauen das Zusammenstoßen der Rollis. Egal, für Anke Kurzmann ist Rugby „die Supermotivation“ für den Alltag. Sie liebt den Teamgeist, auch die Atmosphäre von Spieltagen und Turnieren. Es gelte: „Bist du stinknormal und ein Fußgänger, fällst du auf.“ Folglich würden die „Normalos“ nach Betreten der Turnhalle schnell nach einer Sitzgelegenheit suchen und dabei häufig auf die abgestellten Alltagsrollis stoßen. „Die sind bequemer als harte Turnhallenbänke“, empfiehlt die Stürmerin.
Artur spielt nebenan mit seiner kleinen Nachbarin, während seine Mutter einen Moment lang überlegt. „Ich bin vor zwei Jahren anders rüber gekommen. Ich bin nicht mehr nur die Behinderte, sondern auch Sportlerin.“ Sie spielt Regional- wie auch Bundesliga und natürlich im eigenen Nationalteam.
Floyd ist eingeschlafen. Er schnarcht in seiner Ecke. Die Kerze flackert und lässt an der Wand die Schatten der Kannen tanzen. Auf Anke Kurzmanns Teller türmen sich die Nussschalen. Wie sieht ihr perfekter Tag aus? „Wenn mein Kind lächelt, wir gemeinsam lesen und spielen. Und wenn mein Hund lange genug draußen war.“ Ein Tag so ganz ohne Rugby? Anke Kurzmann zieht die Augenbrauen hoch: „Rugby, das ist der Weg dorthin.“