: Fremd, fromm, frech
AUS KIERSPE MORITZ SCHRÖDER
Arthur Klassen sitzt zurückgelehnt in seinem Bürostuhl und schaut aus dem Fenster. Mit seinen ineinander verschränkten Fingern und den halb geöffneten Augenlidern sieht er friedlich aus. Klassen ist Pastor der Baptistischen Brüdergemeinde im südwestfälischen Kierspe und betreut einen Großteil der rund viertausend SpätaussiedlerInnen aus den Nachfolgestaaten der UdSSR, die in den vergangenen Jahren in die Stadt gezogen sind. „Unser Ziel ist einfach, nach der Bibel zu leben“, sagt Klassen. Vorwürfe, wonach ausgerechnet seine Gemeinde das Klima in der 18.000-Einwohner-Stadt störe, musste er sich dennoch häufig anhören. Klassen, ein zurückhaltender 46-Jähriger, der selbst aus Osteuropa nach Kierspe kam, wehrt sich gegen solche Beschuldigungen: „Wir haben keine Integrationsprobleme.“
Das sieht Frank Emde, das weltliche Oberhaupt der Stadt, ganz anders. Vor allem die jugendlichen Spätaussiedler hätten sich in der Vergangenheit nur bedingt angepasst und oftmals Streit auf Kierspes Straßen gesucht, klagt der Bürgermeister. „Einige konsumierten in Gruppen Alkohol und wirkten bedrohlich“, sagt Emde. Vandalismus und Gewalt seien die Folge gewesen. Auch ihretwegen patroulliert seit zwei Jahren ein privater Sicherheitsdienst in Kierspe.
Die Ursachen für das Verhalten vieler Jugendlicher aus dem Dunstkreis der Gemeinde liegen nach Auffassung von WissenschaftlerInnen in der wertekonservativen Haltung der baptistischen Familien. Ausgangspunkt sei die Erfahrung der AussiedlerInnen in der früheren Sowjetunion. Dort hatten sie wegen ihrer deutschen Abstammung einen schweren Stand. Die zahlreichen BaptistInnen unter ihnen hatten es während des kommunistischen Regimes besonders schwer und verschlossen sich der Mehrheitsgesellschaft. „Je mehr Verbote zur Ausübung ihrer Religion es gab, umso mehr kapselten sie sich ab“, sagt Gerhard Sauter, emeritierter Theologe an der Uni Bonn. Starke Familienverbände, eine rigorose Sexualethik und den Glauben an eine wortgetreue Auslegung der Bibel nahmen sie schließlich mit nach Deutschland, wohin sie aufgrund ihrer deutschen Herkunft seit Anfang der Neunzigerjahre auswandern durften.
Als bevölkerungsreichstes Bundesland bekam Nordrhein-Westfalen bundesweit mit 21,8 Prozent der SpätaussiedlerInnen den höchsten Anteil zugewiesen. Die Stadt Kierspe wiederum nahm, gemessen an der Stadtbevölkerung, landesweit besonders viele von ihnen auf. Heute sind rund 16 Prozent der KiersperInnen Spätaussiedler, die meisten von ihnen Baptisten. Für die Stadtverwaltung waren sie laut Bürgermeister Emde anfangs „pflegeleicht“, hätten sich schnell eine Arbeit gesucht und somit wenig Kosten für die Kommune verursacht. Das Gemeindeleben spielt sich heute überwiegend in dem imposanten Bethaus ab, ein von den Gemeindemitgliedern selbst gebautes Gotteshaus.
Die Probleme haben sich nach und nach eingestellt. Die Ursache für die Auffälligkeiten unter den Jugendlichen sieht Michael Wirth im Zusammenprall der baptistischen Werte in den Familie und den Anforderungen des modernen Lebens. „Die Jugendlichen wissen nicht, wo sie sich zwischen ihren zwei Welten gerade befinden“, sagt der Leiter des Bereichs Migration bei der Diakonie im Märkischen Kreis, zu dem Kierspe gehört. Die Ablehnung von Alkohol und Fernsehen zu Hause stoße auf eine libertäre Jugendkultur und eine medienfixierte Welt, sagt der Soziologe. Die Diakonie hat deshalb ein Projekt entwickelt, das mit 200.000 Euro vom Bundesinnenministerium finanziert wird und die Probleme auf Kierspes Straßen endlich lösen soll. Es richtet zum großen Teil an die jugendlichen SpätaussiedlerInnen. Die am Integrationsprojekt beteiligten Mitarbeiter sehen einen Zusammenhang zwischen baptistischem Glauben und den Eingliederungsproblemen der Jungen und Mädchen aus Osteuropa.
Seit gut einem Monat versucht die Kiersper Streetworkerin Sibylle Wiehle, mit den Jungen und Mädchen aus Aussiedlerfamilien ins Gespräch zu kommen. Die treffen sich nicht nur im bunt bemalten Jugendzentrum der Stadt, sondern auch abends im Freien, fahren Mofa oder trinken Wodka. In Zukunft sollen sie sich, wenn es nach Sibylle Wiehle geht, lieber in Boxkursen austoben. Mittels Kummerkästen und Gesprächskreisen wollen SozialarbeiterInnen das Sozialverhalten der Jugendlichen trainieren.
Doch auch die KiersperInnen scheinen Teil des Problems zu sein. Viele BürgerInnen sträuben sich gegen die Besonderheiten des baptistischen Gemeindelebens. „Es gibt Argwohn“, weiß Bürgermeister Emde. „Klein Moskau“ wird das Viertel häufig abschätzig genannt, wo viele osteuropäische Nachnamen neben den Türklingeln prangen. Die Brüdergemeinde musste sich auch gegen Kritik wehren, ihr Bethaus sei zu groß geraten. Wegen ihrer hohen Kinderzahlen wird den baptistischen Familien teilweise mit Befremden begegnet. Die meisten Familien zählen mehr als fünf Personen. In einigen wenigen leben bis zu 19 Personen unter einem Dach.
Große Emotionen erzeugte zuletzt ein Konflikt um den Unterricht an einer Kiersper Grundschule. Ende 2005 weigerten sich baptistische Eltern, ihre Kinder an einem Schulprojekt teilnehmen zu lassen, das über die Gefahren von Drogen aufklären sollte. Die Lerninhalte könnten sie nicht mit ihrem Glauben vereinbaren, hieß es. Auch ein Bußgeldverfahren gegen die Eltern zeigte keine Wirkung. Ähnliche Fälle gab es bereits in ostwestfälischen Schulen, wo Mitte 2005 sieben Elternpaaren nach langem Streit das Sorgerecht teilweise entzogen wurde, um zu garantieren, dass ihre Kinder in die Schule gehen. Ihre Eltern fanden, dort würde zu freizügig über Sexualität gesprochen.
Bislang habe es in Kierspe kaum Versuche gegeben, den Dialog zwischen Zugewanderten und Einheimischen zu fördern, kritisiert Michael Wirth von der Diakonie. Natürlich würden nicht nur Jugendliche aus Spätaussiedlerfamilien kriminell. Bestimmte Probleme würden den BaptistInnen gezielt in die Schuhe geschoben. Deshalb richte sich das Integrationsprojekt zum kleineren Teil auch an andere Gruppen von Jugendlichen in der Stadt. Im Jugendzentrum erzählt ein junger Gast über die BaptistInnen: „Zu Hause müssen die brav sein. Draußen beleidigen sie mich oft.“ Sein Freund hat andere Erfahrungen gemacht: „Eigentlich sind die ganz gut drauf.“
Langfristig soll mit dem Projekt die Akzeptanz unter den unterschiedlichen Kiersper Gruppen erhöht werden. Der erste Kontakt zu den 14- bis 27-Jährigen SpätaussiedlerInnen soll im Jugendzentrum stattfinden. Dabei entstehen ganz neue Erfahrungen mit den Jugendlichen. „Die schauen mich häufig erstaunt an, wenn ich Russisch mit ihnen spreche“, erzählt Streetworkerin Wiehle. Es sei ungewohnt für sie, dass jemand ihre Sprache spricht außerhalb von Familie und Freundeskreis.
Pastor Arthur Klassen sieht keinen Grund zur Sorge: „Wir hatten bisher kaum Probleme in Kierspe, auch wenn viele anders denken als wir.“ Die Gefahr eines „Aussiedler-Ghettos“ sieht er nicht. Zurzeit beschäftigt sich das Gemeindeoberhaupt ohnehin mit anderen Problemen. Das neue Gemeindezentrum, bei dem er selbst mit anpackt, soll noch dieses Frühjahr fertig werden. Dort sollen über die sechs Gottesdienste hinaus zum Beispiel Kleider für osteuropäische Länder gesammelt werden. Gegenüber bietet ein Kiosk schon heute Gebäck und traditionelle Holzpüppchen aus Russland an. Neben dem Gemeindezentrum erhebt sich das rot geziegelte Bethaus. Ein Stein vor dem Eingang trägt die alttestamentarische Aufschrift „Eben-Ezer“, auf deutsch: „Bis hierher hat uns Gott geholfen.“