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Archiv-Artikel

Die Träume sind abhandengekommen

„Chanson d’amour“ von Xavier Giannoli erzählt die Geschichte einer Annäherung: Ein in die Jahre gekommener Provinzsänger und eine junge Maklerin aus der Stadt lernen sich kennen. Der Regisseur erreicht dabei die schwebende Leichtigkeit, auf die sich das französische Kino so gut versteht

VON NICOLE HESS

Von Mascha Kaléko ist postum der Band „Ich bin von anno dazumal“ erschienen. Im Titel dieses Büchleins, das Chansons und Gedichte der deutsch-jüdischen Lyrikerin versammelt, klingt sehr schön der Tonfall an, der auch Xavier Giannolis Film „Chanson d’amour“ bestimmt: der ironisch-zärtlich-melancholische Blick auf eine Welt abseits der Tagesaktualität und das selbstbewusste Eingeständnis einer Autorin, dass im Leben jenseits der vierzig das Sentiment die Oberhand gewinnt.

Alain Moreau, von Beruf Ballsänger in der französischen Provinz, kennt die Bedürfnisse von Menschen, deren Liebesleben eingeschlafen und denen die Träume abhandengekommen sind. In Lokalen rund um Clermont-Ferrand spielt er, im Gepäck das musikalische Liedgut von Charles Aznavour über Jean-Michel Jarre bis Serge Gainsbourg, zu Tanzabenden auf, bei denen in die Jahre gekommene Singles sich kennen lernen und Paare einen zweiten Frühling erleben können. Dass der Meister der charmanten Verkuppelung, gespielt von Gérard Depardieu, selber unter Einsamkeit leidet, macht die erste Einstellung deutlich: In einem weitwinklig aufgerissenen Salon sitzt er, den korpulenten Körper in einen weißen Anzug gezwängt, am hinteren Bildrand allein auf einem Stuhl, raucht und wartet auf seinen Auftritt.

Kein Wunder bei dieser Exposition, dass nur wenige Minuten später schon in Gestalt der Häusermaklerin Marion (Cécile de France), einer attraktiven und impulsiven Blondine, ein Engel auf den Plan tritt, der die Verführbarkeit des Dandys testet. Zwischen den beiden ungleichen Individuen entspinnt sich zunächst ein Flirt, bald bahnt sich eine Liebesbeziehung an, die beiden, dem älteren Mann aus der Provinz und der jüngeren Frau aus der Stadt, die Augen öffnet für das Wesentliche im Leben.

Regisseur Xavier Giannoli erzählt in seinem dritten Spielfilm – der französische Originaltitel ist „Quand j'étais chanteur“ – die Geschichte einer Annäherung, und er tut es in der schwebend leichten Art und Weise, wie es wohl nur das französische Kino versteht. Getragen von den von Depardieu gesungenen Chansons, welche die Handlung als innere Stimme begleiten, zeichnet er eine auf den ersten Blick unmögliche Histoire d'amour in all ihren Facetten: vom Coup de foudre über ihren Rückzug und sein Werben bis zur Eroberung; das Glück, den Verlust und die Wiedergewinnung unter neuen Vorzeichen.

Um sich Raum zu verschaffen für das gegenseitige Kennenlernen, lässt sich das Paar auf ein unausgesprochenes Abkommen ein: Alain gibt vor, auf der Suche nach einem neuen Zuhause zu sein, und Marion bietet sich als Begleiterin an. Die leeren Wohnungen und Häuser werden so zu Refugien, in denen die Verliebten sich öffnen, Hoffnungen und Ängste geäußert, Fantasien entworfen werden – und allmählich eine Intimität entsteht.

Ihren Schmelz verdankt die Inszenierung, die vornehmlich in warmen Rottönen gehalten ist, einerseits den sensiblen und humorvollen Dialogen, die das Geschehen allen Unwägbarkeiten zum Trotz in einer ausbalancierten Stimmungslage halten und nie ins Sentimentale kippen lassen; „Weinen hilft nichts“, heißt es einmal programmatisch. Anderseits lässt Depardieu, der Cyrano und Tartuffe, der Obelix und Vatel, in der Rolle des alternden, von Eitelkeit nicht ganz freien Unterhalters, Saiten anklingen, die vermuten lassen, dass Persönliches in die Performance mit eingeflossen ist. Licht- und Kostümkunst, die den Sänger – für den es im Übrigen ein reales Vorbild gibt – abwechslungsweise als gepflegten Herzensbrecher, zerzausten Altrocker und jugendlich inspirierten Verehrer vorführen, tragen das ihre zur stimmigen Charakterzeichnung bei.

Über eine Million Einheimische sollen, so heißt es, Giannolis Romanze bisher gesehen haben und begeistert sein. Können so viele Franzosen irren? Tatsächlich gelingt dem 1972 geborenen Regisseur, der auch das Drehbuch schrieb, nicht nur ein atmosphärisch dichtes Liebespoem, das die Klaviatur der menschlichen Gefühlslagen meisterlich beherrscht. Giannoli nähert sich der Provinz auch in einer Haltung, der jede großstädtische Überheblichkeit fremd ist. Sein Film, der im Wettbewerb von Cannes lief, ist eine ebenso liebe- wie würdevolle Auseinandersetzung mit den Sehnsüchten und dem Altern.

„Chanson d’amour“, Regie: Xavier Giannoli, mit Gérard Depardieu, Cécile de France u. a., Frankreich 2005, 112 Min.