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Archiv-Artikel

Eine Biografie randvoll mit Leben

Charlotte Brandenburg ist 95 und die älteste Einwohnerin eines kleinen Dorfes am Rande Berlins. Ihr bewegtes Leben könnte verfilmt werden. Wie 245 andere auch. Heute gibt eine Jury bekannt, wer den Biografie-Wettbewerb gewonnen hat

„Ihre letzte große Reise führt nach Pommern. Die Polen haben Angst, sie könnten ihren Besitz wollen. Das begräbt jedes Wort“

VON ERIK HEIER

Was für ein Wetter. Regen, Wind. Nasswarm. Ekelhaft. Wann wird’s mal wieder richtig Winter? – Können Sie sich an so einen warmen Winter erinnern? „Nein, gab es nie. Niemals.“

Die Frau, die das heftig kopfschüttelnd sagt, hat jede Menge Winter erlebt. Charlotte Brandenburg ist 95 Jahre alt, die älteste Einwohnerin des kleinen Dörfchens Pausin im Havelland. Das liegt gleich neben Spandau. „Als ich klein war, lag der Schnee so hoch.“ Die alte Frau stemmt sich aus dem Sofa hoch, erstaunlich behände sieht das aus, sie reckt die Hand über ihren Kopf. Sehr groß ist sie nicht. Es muss trotzdem viel Schnee gewesen sein. Damals. Ach, damals. So viel zu erzählen.

Sie redet gern. Sie redet viel. Schon ist sie mittendrin in ihrem langen, bewegten Leben. Ein Leben wie ein Film. Es könnte tatsächlich einer werden. Das entscheidet sich heute. „Lass doch den jungen Mann mal fragen, Oma!“ Die Tochter sagt „Oma“ zur Mutter. „Sie müssen sie unterbrechen. Wenn sie erst ins Reden kommt …“ Unterbrechen, gut, ja, klar. Wenn es so einfach wäre.

„So, was wollen Sie wissen? Müssen aber lauter sprechen. Ich hab doch einen Hörapparat. Und gleich kommt die Ärztin.“ Wo soll man jetzt bloß anfangen? Zeitmaschine auf Vollgas vielleicht, gleich ein knappes Jahrhundert zurück? Oder die neuralgischen deutschen Daten? 1939, 1945, 1961, 1989? Also dann. Haben Sie denn noch Erinnerungen an Ihren Geburtsort? Buckowin, damals Pommern. Natürlich hat sie. Und wie. Lebte ja dort, bis sie 20 war. Die Ärztin klingelt.

Charlotte Brandenburgs Lebensgeschichte ist eine der 246 Biografien, die bisher beim Wettbewerb „Was für ein Leben“ eingegangen sind. Eine Berliner Filmfirma, ad.eo filmbiografien, hat dazu aufgerufen, bundesweit. Alltagsbiografien, keine von Promis. Unter anderen machen das Deutsche Historische Museum (DHM), die Stiftung Dialog der Generationen und das Institut für Geschichte und Biografie der Fernuniversität Hagen mit. Heute gibt die Jury den Sieger bekannt. Daraus entsteht bis zum Sommer ein Dokumentarfilm, 45 Minuten, zuallererst für den privaten Gebrauch. Im DHM wird er aber auch gezeigt.

Die junge Ärztin packt ein, es ging schnell. Über Frau Brandenburgs Werte würde sich jeder Jungspund freuen, lobt sie. Ihr fällt ein Täschchen herunter. Die alte Dame bückt sich flink. „Frau Brandenburg, Sie müssen doch nicht meine Sachen aufheben.“

Wenn Charlotte Brandenburg rausgeht, zu ihren geliebten Blumen, trägt sie ein kleines Fläschchen um den Hals. An einer Schnur. Da ist etwas zum Inhalieren drin, für den Notfall. Manchmal verliert ihr Herz den Takt, setzt aus. Der Infarkt ist schon lange her, kurz nach dem Mauerbau, Mitte der 60er. Da war ihre Biografie bereits randvoll mit Leben. Die Liebe, der Krieg, das Leid. „Meine Familie soll wissen, wie ich mein Leben gestaltet habe“, sagt Charlotte Brandenburg. Drei Kinder, sieben Enkel, sechs Urenkel. Für sie hat sie schon vor Jahren angefangen, ihr Leben aufzuschreiben.

1931 fängt sie mit 20 in Pausin bei einem Bäcker an, in Spandau gib es Verwandte, zu denen ist sie von Pommern aus hingezogen. Für einen brüllenden Populisten steht sie im Sägewerk in Naumburg Spalier. Er schüttelt ihre Hand. Später wird dieser Adolf Hitler das Land in die Katastrophe treiben. Noch aber tut sie begeistert beim Bund Deutscher Mädel mit, verliebt sich 1934 in einen Bäckerburschen, wird schwanger, heiratet. Noch ist alles gut.

Das Töchterchen, kein halbes Jahr alt, wird am Himmelfahrtstag 1936 krank von verdorbener Milch. Die Kühe hatten auf Rieselfeldern gefressen, geklärt wurde die Gülle damals nicht. Tags darauf fährt die Mutter zum Krankenhaus. Da ist das Kind schon tot.

Das nächste Baby wird 1937 geboren, ein Junge, Horst. 1940 folgt Marlies, das ist die Tochter, die heute oben im Haus wohnt und das Unterbrechen des Redeflusses ihrer Mutter gestattet. Und 1945 Doris. Den Oberkörper leicht vorbeugt, sitzt Charlotte Brandenburg auf ihrem Sofa, das mit den Jahren nachgedunkelt sein muss. Die Anrichte mit der Glasvitrine und der Schreibschrank sind von 1935. Der Tisch nebenan auch. „Die bleiben, bis ich sterbe.“

Das sagt sie so leichthin. Ihr Stimme ist erstaunlich fest. Nur manchmal taumelt sie ein wenig. Das kann Schwäche sein. Oder es ist die Vergangenheit, die dann die Kehle eng werden lässt. 1937 floriert die Bäckerei, in vierter Generation. Ein neuer Lieferwagen muss her, Opel Blitz, eineinhalb Tonnen. Dafür wird das Haus beliehen. Ahnt ja keiner, was kommt. Noch 20 Jahre später fordert eine Potsdamer Bank 5.000 Mark zurück. Sie zahlt. Sie muss.

Da ist der Lieferwagen längst zerschossen, es erwischt ihn gleich nach Kriegsbeginn. Das linke Bein ihres Mannes bald darauf auch, zwei Durchschüsse, Wade und Hacken weg. Sanitäter war er, in vorderster Front. Im August 1939 hatte man ihn eingezogen, mit Lieferwagen. Richtig laufen kann er danach nie wieder. 1997 stirbt er.

„Gerade die Lebensgeschichten der Älteren kann man fast wie Romane lesen“, sagt Angelika Brötzmann, die für ad.eo in der Wettbewerbsjury sitzt. So reiht auch Charlotte Brandenburg Erlebnis an Erlebnis, oft bruchlos. Manchmal irrlichtern die Erinnerungen, springen in der Zeit und den Orten wie losgelöst hin und her, verlieren ein wenig die Orientierung. So viele Dinge. So viel Zeit.

Die Bäckerei geht 1940 pleite, weil keine Gesellen helfen. Die müssen alle in die Schlacht. Bis zum Kriegsende zittert sie oft im Luftschutzkeller des Hauses. Draußen fallen die Bomben wie reife Früchte. Zwei Dutzend Pausiner bringen sich aus Angst vor den Russen um. Noch 1981 wird an der Toreinfahrt des Hauses eine Bombe ausgegraben, ein Blindgänger.

In der letzten Kriegsnacht brennt der Stall aus. Dort hatte sie auch das bisschen Familienschmuck vergraben. Der ist hinterher nur noch ein geschmolzener Klumpen. Dann ziehen Soldaten der Roten Armee bei ihr ein. Neuanfang aus dem Nichts. Sie arbeitet in der Landwirtschaft, viel und hart. Bis der Infarkt sie in Rente schickt. Die linke Hand der alten Frau kommt nie zur Ruhe, unstet gibt sie den Erinnerungen eine Richtung, teilt sie in ein Da und Dort und Hier. Die rechte ruht vor ihrer Brust.

Da die Pumpe, an der beinahe ihr Schwiegervater erschossen wird, weil er etwas von der Suppe nimmt, die für den sowjetischen Kommandeur in der oberen Etage bestimmt ist. Dort das Nachbarhaus, von dessen Balkon die Russen mit einem Grammfon das Dorf mit immer demselben Lied beschallen. Bis ihnen jemand betreten erklärt, dass es das Horst-Wessel-Lied ist. Da und dort und hier.

Die Geschichtswissenschaft verbindet historische Daten, schaut auf das große Ganze. Sie deutet, im besten Fall erklärt sie. Die Privatbiografie von normalen Menschen ist anders. Von Menschen, die nicht Exkanzler sind oder Altschriftsteller, welche plötzlich ihre SS-Vergangenheit freischaufeln. Eine normale Alltagsbiografie steht allein für sich in den Epochen, die sie umtosen. „Die Erkenntnis, dass man ohne eine individualistische Dimensionierung von Geschichte Geschichte selbst nicht mehr schreiben kann, hat sich durchgesetzt“, sagt Rosmarie Beier-de Haan vom Deutschen Historische Museum.

Viele der knapp 250 Wettbewerbseinsendungen stammen von der Generation, die noch den Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Die stirbt jetzt aus. Nicht jeder wird so alt wie Johannes Heesters. Zum Beispiel die Witwe, die lange nach dem Tod ihres Mannes mit 78 ihre erste echte Liebe findet – bei einer Frau. Oder ein 67-Jähriger, der den Großteil seines Lebens wegen einer in den Nachkriegswirren erlittenen Ertaubung und Gesichtslähmung „wie ein Eremit“ allein lebt. Aber auch ein 47-Jähriger, erfolgreich im Beruf, der in Boliven eine Straßenkindermission gründet, später eine weitere in Nairobi; zwischendurch kapituliert er beinahe vor dem Burn-out-Syndrom.

Die Frage ist nicht so sehr, ob das alles verfilmt werden sollte. Die Frage ist eher, ob gerade die Kinder, die Enkel damit leben können, dass diese Erinnerungen nach dem Tod der Zeitzeugen für immer verloren gehen.

„Die Jugend heute macht sich gar keine Gedanken“, findet Charlotte Brandenburg. „Kinder von 20 Jahren, die müssten doch, wenn sie gefragt werden über Geschichte, irgendwas antworten können.“ – Können sie nicht? „Nee, gar nicht. Die wissen, wie Schönheit gemacht wird, was Sport ist. Aber wie das in der Geschichte weitergeht, da kriegen Sie keine Antworten.“

Sie klingt traurig, als sie das sagt. Traurig wie der Regen, der jetzt draußen sehr hart gegen die Fenster schlägt. Bei Regen darf Charlotte Brandenburg nicht hinaus. Das schwache Herz, „die Pumpe“. Am liebsten sitzt sie dann in einem Sessel direkt am Fenster. Pausin besteht im Wesentlichen aus einer Schnellstraße. Es gibt nichts Öderes als eine Ortsdurchfahrt im Dauerregen. Aber was soll man machen?

2003 geht Charlotte Brandenburg auf ihre letzte großen Reise. Die führt in ihre Vergangenheit. Mehr als 70 Jahre zuvor war sie von Pommern weggegangen. Jetzt zuckelt sie im Wohnmobil mit Tochter und Sohn nach Polen. Kaum jemand redet mit den Deutschen. Die Polen haben Angst, sie könnten ihren Besitz wollen. Das begräbt jedes Wort. In der Buckowiner Kirche steht immer noch ihr Taufstein. Auf einem Foto sieht man sie fast schüchtern daneben. Schüchtern wirkt sie sonst wirklich nicht.

Als Charlotte Brandenburg wieder zurück ist in Pausin, traurig, enttäuscht, auch etwas verbittert, schickte ihr der Buckowiner Bürgermeister einen Brief hinterher. Hätte man gewusst, dass sie sich nur umsehen wollte, man hätte ihr alles gezeigt. Alles. Er lädt sie noch einmal ein. Das wäre doch eine schöne Schlussszene für einen Film.

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