: „Das ähnelt dem alten Realsozialismus“
Venezuela unter Chávez war bislang ein faszinierendes linkes Experiment. Doch wenn Chávez eine Einheitspartei gründet und per Dekret regiert, droht die demokratische Debatte zu ersticken, so der Linksintellektuelle Edgardo Lander
taz: Herr Lander, Venezuelas Präsident Hugo Chávez redet viel vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Nun hat er kürzlich die Gründung einer sozialistischen Einheitspartei angekündigt. Wohin steuert Venezuela?
Edgardo Lander: Die nächsten Monate werden entscheidend sein. Chávez will nach dem Wahlsieg im Dezember den Wandel radikalisieren. Viel hängt davon ab, ob darüber eine offene Debatte stattfindet. Die Art und Weise, wie die Einheitspartei propagiert wird, ähneln allzu sehr dem alten, real existierenden Sozialismus. Eine der schönsten Erfahrungen der letzten Jahre war ja gerade, dass es kein falsches strategisches Projekt gab. Da das venezolanische Projekt etwa zeitgleich zum Mauerfall und dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann, knüpfte es eben nicht an den Sozialismus des 20. Jahrhunderts an.
Sondern?
Es ist offen für Experimente, für Vielfalt, es hat seine Wurzeln in der Geschichte Lateinamerikas, bei Bolívar, im Urchristentum, in den Kämpfen der indigenen Völker. Es ist also heterogen und sehr reichhaltig, etwa in den Organisationen um das Wasser, den Gesundheits- und Bildungskomitees, den Kämpfen der Bauern um das Land. Wenn diese Experimente in ein Einheitsmodell gepresst würden, wäre das eine außerordentliche Verarmung des demokratischen Prozesses.
Wie bewerten Sie das neue Kabinett? Stimmt es, dass sich Chávez nur noch mit bedingungslosen Gefolgsleuten umgibt?
Im neuen Kabinett gibt es niemanden mehr mit einer politischen Geschichte vor Chávez. Renommierte Leute wie die ehemaligen Minister Ali Rodríguez, José Vicente Rangel oder Aristóbulo Istúriz, die ihm etwas entgegensetzen könnten, sind weg. Das ist schädlich und trägt dazu bei, dass es keine Debatte gibt.
Und welche Rolle spielt das Parlament, wo nach dem Wahlboykott der Opposition im Dezember 2005 nur Chavistas sitzen?
Es ist schwer zu erklären, warum der Präsident vom Parlament die Erlaubnis haben möchte, per Dekret regieren zu können. Im Parlament könnte doch diese öffentliche Debatte über die Zukunft des Landes stattfinden! Derzeit läuft sie nur in kleinen Gruppen im Internet. Das ist ein Fehler – zumal die Polarisierung der Gesellschaft viel Unheil angerichtet hat und sich die Medien auf den Streit zwischen Regierung und Opposition beschränken. Gehaltvolle Diskussionen sind da sehr schwer zu führen.
Viele finden, dass die Form, in der Chávez öffentlich andere Politiker kritisiert, etwa George W. Bush oder kürzlich den OAS-Generalsekretär José Miguel Insulza, Venezuela schadet? Stimmt das?
Ja. Das venezolanische Projekt ist in der Welt immer noch ziemlich einsam, also brauchen wir die größtmögliche Anzahl von Freunden. Wenn man keine Freunde hat, schwächt das den Prozess. Und um Freunde zu gewinnen, muss man vorsichtiger sein. Wenn man alles sagt, was einem gerade einfällt, ist das unverantwortlich. Teile der Regierungen Brasilien, Chiles oder Uruguays haben sowieso schon eine – vorsichtig gesagt – angespannte Beziehung zur venezolanischen Regierung.
Steckt bei Chávez hinter solchen Äußerungen System?
Eine absichtsvolle Strategie ist das wohl nicht. Manchmal gibt Chávez zu, er hätte vorsichtiger sein sollen, etwa im Falle Insulzas. Es hängt eher mit seiner Gewohnheit zusammen, einfach zu sagen, was er denkt, ohne an die politischen Folgen zu denken.
Warum verbündet sich Chávez mit zweifelhaften Gestalten wie dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad?
Das liegt an einer zu einseitigen Sichtweise der Weltpolitik. Weil man die imperiale Politik der USA als die größte Bedrohung sieht, werden Allianzen mit den Feinden der USA geschmiedet. In manchen Situationen mag das durchaus sinnvoll sein, aber die Ziele des iranischen Regimes haben mit jenen Venezuelas ziemlich wenig gemeinsam.
Viele kritisieren auch, dass Chávez die Verstaatlichung vorantreibt …
Ich nicht. Warum soll sich die Telekommunikation in den Händen von Multis befinden? Die interne Kommunikation der Regierung darf einfach nicht über die Netze einer US-Firma laufen. Im Übrigen war die öffentliche Kontrolle von strategischen Wirtschaftsbereichen ja bis vor kurzem eine Selbstverständlichkeit. Erst wegen der neoliberalen Veränderungen der letzten Jahrzehnte erscheint es als natürlich, dass alles in privaten Händen ist und dass es als autoritärer Etatismus erscheint, wenn sie in staatlicher Hand sind. Der Neoliberalismus hat eine wichtige ideologische Verschiebung in den Köpfen bewirkt: Selbst sozialdemokratische Vorstellungen erscheinen nun als radikal.
INTERVIEW: GERHARD DILGER