: „Mut zu sagen, was ist“
„Hässlichkeit“ wäre Thema der achten Design-Diskussion der Hochschule Niederrhein gewesen. Das Wetter spielte mit – die Veranstaltung musste verschoben werden. Professor Erik Schmid stellt sich
INTERVIEW C. WERTHSCHULTE
taz: Herr Schmid, war der Orkan Kyrill schön oder hässlich?
Erik Schmid: Ein Sturm ist etwas sehr Hässliches, wir mussten unsere Veranstaltung absagen. Aber man kann sehen, wie nahe Schönheit und Hässlichkeit beieinander sind. Bei schönem Wetter kommt auch niemand.
Gibt es auch einen schaurig-schönen Sturm?
Natürlich. Grundlage ist da die ästhetische Kategorie des Erhabenen, wodurch wir an diesen Urgewalten teilhaben. Bei Kant gibt es den fast schon paradiesischen Gedanken, sich in den Urgewalten aufzulösen.
Ist Hässlichkeit aktuell?
Aktuell ist die Hässlichkeit in erster Linie, weil sie als Erkenntnismodell nicht mehr gebraucht wird. Die Leute reden sehr viel über Schönheit und relativ wenig über Hässlichkeit. Es gibt aber einen Zustand des Vor-Schönen, etwa eine Frisur, die noch nicht fertig frisiert ist. Wenn man sich da verrannt hat, könnte man den Schritt zur Hässlichkeit wagen, wenn man alles wieder zerstrubbelt, um wieder anzufangen. Mehr Mut zur Hässlichkeit bedeutet für mich, zu versuchen, das Gegenteil als Ausgangspunkt zur Findung von Schönheit zu nehmen. Eigentlich ist Hässlichkeit ein Instrument zur Findung von Schönheit.
Woran machen Sie das fest?
Meine Kinder haben unlängst ein Kaugummi mit nach Hause gebracht, das nach Leberwurst schmeckt. Das war schon ein ästhetischer Schock. Man fängt an, über die Bindung von Geschmack und Form nachzudenken. Noch nie wurde soviel Geld für Schönheit ausgegeben wie heute. Hässlichkeit wird dagegen abgelehnt, um zu Schönheit zu kommen. Doch die beiden Kategorien schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. Das Gegenteil von Liebe ist ja auch nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Ich kann nur lieben, wenn ich auch hasse. Hässlichkeit ist eine Kategorie, aus der man lernen kann, dass Schönheit nicht nur von der Oberfläche begriffen werden kann. Ich lerne nichts mehr über die Schönheit, wenn ich die Hässlichkeit immer nur als „Nicht-Schönheit“ oder „Vor-Schönheit“ abqualifiziere.
Die Hässlichkeit in der Kunst ist schon länger ein Thema?
Ja. Denken sie an die Avantgardebewegung, das Happening, „Publikumsbeschimpfung“, Heiner Müller und die ganzen Kunstbewegungen aus den 1960er Jahren. Der theoretische Hintergrund ist die explizite Forderung Adornos, dass Kunst hässlich sein müsse, weil es nach Auschwitz nicht mehr möglich sei, die Welt mit dem Schönen zu bestätigen. Gleichzeitig hat er davor gewarnt, dass hässliche Dinge wieder vereinnahmt werden. In diesem Zusammenhang könnte man Punk oder die destruktive Hässlichkeit eines Piercings nennen. Hässlichkeit muss sich immer wieder neu erfinden. Der Wunsch nach Affirmation und widerstandsfreier Kommunikation ist groß. Hässlichkeit heißt immer, sich selbst oder jemand anderem ans Bein zu treten. Dies abzulehnen würde bedeuten, sich nur mit Ja-Sagern zu umgeben.
Ist das auch an Gesellschaftsschichten gebunden?
Das ändert sich ständig. Die Schönheit der Reichen versucht sich von der Schönheit der Armen abzugrenzen, indem sie unerreichbar teuer ist. Es gibt Leute, die haben nur das Gefühl, etwas Schönes zu besitzen, wenn es teuer war. Diese Leute finden es hässlich, auf den Sperrmüll zu gehen. Dabei kann ich dort hochwertige Dinge bekommen, die ich mir im normalen Leben nicht leisten könnte. Der soziale Handel, gebrauchte Dinge zu bekommen, wird von denen schlecht bewertet, weil nur der Kauf eine positive Handlung darstellt.
Wo würde denn NRW ein wenig mehr Hässlichkeit gut tun?
Ich denke da explizit an Essen: Eine sehr hässliche Stadt, die aber nach außen nur über die Zeche Zollverein kommuniziert. Da finde ich Dortmund zehn Mal interessanter. Ein bisschen Mut zur Hässlichkeit würde Essen gut tun. Über Krefeld, wo ich unterrichte, kann ich jedoch sagen: Krefeld braucht mehr Mut zur Hässlichkeit. Hier stehen sehr viele Häuser leer, doch die Stadt versucht ständig, sich neuen Dingen zuzuwenden, um Sponsoren zu gewinnen. Wie wäre es denn, wenn ich einfach mal vor jedes dieser Häuser eine Plane spanne, die die Geschichte des Hauses erzählt? Das ist ein Ereignis, das Leute aus der ganzen Welt anlocken könnte, wenn man es gut macht. Wende dich den Dingen zu und habe Mut zur Hässlichkeit. Das bedeutet auch, nicht wegzurennen, dorthin wo es schön ist. Mut zur Hässlichkeit ist Mut zu sagen, was ist.