Berliner Platten : Ulrike Haage und Hanno Leichtmann liefern Soundtapeten mit unterschiedlichen Mustern
In ihrem Kasseler Kinderzimmer, so wird es verbreitet, hatte Ulrike Haage angeblich ein Indianerzelt aufgebaut, in dem sie nächtigte. Jahrzehnte später schließt sich der Kreis, wenn Haage in einem Indianerdorf in New Mexiko den Regen aufnimmt, der aufs Dach ihrer Behausung prasselt. Wer „Weißes Land“ aufmerksam hört, wird irgendwann auf diesen Regen stoßen – irgendwo zwischen dem meist improvisierten Klavierspiel von Haage. Ihr Spiel zitiert natürlich klassische Komponisten, aber auch Jazz-Figuren. Weltmusik wird adaptiert, wenn der aus dem Libanon stammende Claude Chalhoub seiner Geige sehnsüchtige Melodielinien entlockt, und auch der Dancefloor ist nicht allzu weit, weil Ulrike Haage aus ihrer Vergangenheit weiß, wie man mit dem Computer Musik programmiert. Einst fertigte sie Pop als Keyboarderin der Rainbirds, davor feministischen Big-Band-Sound mit Reichlich Weiblich. Sie hat Hörspiele vertont und Hörbücher herausgebracht, war Dozentin für Improvisation an der Musikhochschule Hamburg, hat im Jahr 2003 den Deutschen Jazzpreis gewonnen und mit Meret Becker gearbeitet. Auf „Weißes Land“ finden nun viele dieser divergierenden Interessen einen gemeinsamen Ausdruck. Trotzdem – und das vor allem scheint die Leistung dieses zweiten Solo-Albums der Wahlberlinerin – klingt ihre Platte wie aus einem Guss. Und funktioniert nicht nur für die aufmerksamen HörerInnen, die konzentriert den feinen Einflüssen hinterherlauschen, sondern dank der überwiegend warmen Klangfarben auch ganz prima als anspruchslose Soundtapete.
Die Mutter aller Soundtapeten nennt sich Ambient. Der Begriff wurde einst von Brian Eno erfunden, aber seine wirklich große Zeit begann erst in den späten Achtzigern: Seitdem müssen erschöpfte Tänzer während ihrer Verschnaufpausen beschallt werden. Mittlerweile hat Ambient die Zersplitterung in Sub-Genres überlebt und ist wieder zur Nischenmusik geworden. Der ehemalige Jazz-Trommler Hanno Leichtmann hat sich als Mitglied von Static und Vulva String Quartett in elektronischer Klangerzeugung weiter gebildet. Nun belebt er den ins Abseits geratenen Stil mit „Nuit du plomp“. Das wurde zwar komponiert für eine szenische Lesung der Erzählung „Die Nacht aus Blei“ des weithin unbekannten, von Kollegen wie Alfred Döblin und Arno Schmidt aber sehr geschätzten Schriftstellers Hans Henny Jahnn. „Nuit du plomp“ würde aber auch in der Chill-Out-Lounge prima funktionieren. Denn mitunter verstummt die Musik ganz, lässt Raum, um wieder das eigene Atmen hören zu können. In dem Stück „Wind“ erklingen nur Bässe, so tief, dass man sie eher spürt und weniger hört, bis sich wieder wirklich vernehmbare Klänge aus der Ferne schälen. In diesen Momenten ohne Melodie und ohne Rhythmus negiert Leichtmann alle gemeinhin üblichen Konsumentenbedürfnisse und schafft stattdessen reine Atmosphäre. Dazu muss man nicht notgedrungen zurückgreifen auf Samples, in denen der mexikanische Regen auf ein Zeltdach tröpfelt. Thomas Winkler