Eine Revolution von oben

Innenansichten aus einem zerrütteten Land: Kann ein EU-Beitritt der Türkei im Kampf gegen den religiösen Fundamentalismus helfen? Oder werden womöglich nationale und reaktionäre Kräfte gestärkt? Von der Linken ist in dem Streit nichts zu erwarten

von HRANT DINK

Ausländische Journalisten, Politiker und Intellektuelle haben eine gemeinsame Frage: Wohin steuert die Türkei? Diese Frage wird in unterschiedlichen Szenarien formuliert: Werden die EU-Beitrittsverhandlungen verschoben? Wie wird die Türkei reagieren, wenn diese verschoben werden? Wird dann der Nationalismus in der Türkei zunehmen? Auf welches Regime bewegt sich die Türkei zu, falls sich dieser verstärkt? Und noch eine Zusatzfrage, weil ich ein in der Türkei lebender Armenier bin: Sind Sie als Angehöriger einer Minderheit über diese Entwicklung beunruhigt?

Hinter all diesen Fragen steckt ein gemeinsamer Gedanke. Die so Fragenden betrachten die Türkei logischerweise von außen, und weil sie sie von außen betrachten, sind sie dabei vor allem an den „äußeren Angelegenheiten“, also an sich selbst, interessiert. Die Türkei ist für die Fragenden eine Art Spiegel. Über den Umweg der Türkei sind sie auf der Suche nach sich selbst; weil sie mit ihren eigenen Betrachtungen nicht weit kommen, reflektieren sie über das, was sie von uns erfahren. Damit sind wir eine Art sprechender Spiegel für sie. Natürlich sind sie auch unser Spiegel. Auch wir begreifen uns selbst, also unsere „inneren Angelegenheiten“ oft erst durch ihre Vermittlung.

Wenn wir uns selbst schon durch gegenseitige Vermittlung suchen, dann sollten wir zunächst einmal die vorhandenen inneren und äußeren Kräfte unter die Lupe nehmen und vor allem die wichtige Frage beantworten: Von wem geht in der Türkei der Antrieb für Veränderungen aus – von äußeren oder von inneren Kräften? Wenn wir die historischen Prozesse betrachten, spielten äußere Kräfte bei den Veränderungen innerhalb der Türkei eine entscheidende Rolle. Aber auch mit Blick auf die innere Dynamik sollten wir „dem Kaiser geben, was des Kaisers ist“.

Wenn ich von „Kaiser“ spreche, meine ich damit natürlich nicht die Gesellschaft. In der Türkei beruhen Veränderungen stets auf dem Willen des „Schattenstaates“, dem Bündnis aus Militär und nationalem Kapital. Veränderungen liefen immer von oben nach unten ab. Die Gesellschaft trug in den Wandlungsprozessen nicht zu den Veränderungen bei, sondern hatte diese zu akzeptieren. Am besten drückt dies ein Satz aus dem Mund des Bürgermeisters von Ankara, Nevzat Tandogan, aus: „Was habt ihr schon zu melden. Wenn dieses Land den Kommunismus braucht, dann werden wir ihn auch einführen.“

Im letzten Jahrhundert des Osmanischen Reiches war die Türkei ein Spielfeld ausländischer Kräfte. Aber so weit müssen wir gar nicht zurückgehen. Auch wenn wir diese Zeit hinter uns lassen und nur die Republikzeit betrachten, lassen sich drei unterschiedliche externe Entwicklungen ausmachen, die in der Türkei drei unterschiedliche Veränderungsprozesse angestoßen haben. Die herrschende Oligarchie reagierte entsprechend darauf.

Erstens: die Zeit des Kalten Krieges zwischen der kapitalistischen Welt unter Führung der USA und der sozialistischen Welt unter Führung der Sowjetunion. Diese äußere Dynamik brachte in der Türkei zwar eine gesellschaftliche Linke hervor. Doch das oligarchische System war, wie sollte es anders sein, auf der Seite der kapitalistischen Ordnung und beendete diese Entwicklung durch ein, zwei Putschs, bevor die Linke in der Gesellschaft Fuß fassen konnte.

Die zweite wichtige äußere Kraft, die in der Türkei zu Veränderungen führte, war die Revolution der Mullahs in Iran. Die regierenden türkischen Machthaber haben die Forderungen der islamischen Gläubigen reflexartig als Forderungen nach einem Umsturz ausgelegt und diese Gruppe seitdem mit Argusaugen beobachtet und mit putschartigen Maßnahmen in Zaum gehalten. Man kann nicht behaupten, dass diese Wachsamkeit keine Wirkung gezeigt hätte. Selbst wenn die Religiösen heute mit großer Stimmenmehrheit an der Macht sind, haben sie doch nicht den Mut, alle Veränderungen umzusetzen, die sich die Vertreter religiöser Kreise wünschen. Sie sind sogar zu schwach dazu, sich in der wichtigen gesellschaftlichen Frage des Schleiertragens durchzusetzen, und lavieren um das Thema herum.

Die letzte und wichtigste äußere Kraft, die zum Wandel in der Türkei beiträgt, ist die EU. Sie entfaltet eine völlig andere Wirkung als die anderen Kräfte. Doch dazu später.

Kann denn überhaupt die Rede davon sein, dass der Kampf zwischen „kapitalistischer Welt“ und „sozialistischer Welt“ als der in der Geschichte der Republik erste von drei externen Einflussfaktoren in der Türkei heute noch weitergeht? Wo doch mittlerweile Rechte, Linke, Konservative und sogar Liberale darum wetteifern, den (linken) Dichter Nazim Hikmet für sich zu vereinnahmen. Wo doch, man schämt sich, es auszusprechen, die nationale Linke meines Landes die Armee für die revolutionärste Einrichtung überhaupt hält und sie bei jeder Gelegenheit dazu aufruft, für Ordnung zu sorgen. Das bedeutet, dass es in diesem Land keinen Rechts-links-Konflikt mehr gibt. Die Linke ist aus Sicht des Regimes kein Schädling mehr, sondern ein „Bundesgenosse des Staates“, der sich sogar gegen andere schädliche Elemente einsetzen lässt.

Dieses Bündnis hat seit der Mullahrevolution in Iran eine Menge geleistet. Links zu sein bedeutet bei uns nun nicht mehr, die kapitalistische Ordnung zu bekämpfen, sondern die Linke ist zu einem Betätigungsfeld geworden, um sich gegen islamische Forderungen, Erwartungen und Interessen zu wehren. Somit wurde die Linke in der Türkei seit der Revolution der Mullahs ihrer Prinzipien beraubt, und sie steht zum großen Teil nur noch für Laizismus. Heutzutage lässt sich Laizistischsein schon ganz gut als Linkssein verkaufen.

Aber die Linken haben für den Verrat an ihren eigenen Ideen teuer bezahlt. Auf der einen Seite hält man Antireligiosität für Linkssein. Auf der anderen Seite übernahmen die Religiösen gesellschaftliche Forderungen, von denen sich die Linke distanziert hat, und gewannen dadurch auch die Unterstützung des Volkes in den proletarischen Außenbezirken der großen Städte. Nach Jahren der bloßen Machtbeteiligung sind sie nun selbst an der Macht.

In einer Zeit religiöser Herrschaft, in der der alte Staat zur Linken und zur Opposition geworden ist, stehen wir nun unter dem Einfluss einer dritten externen Kraft: der EU. Ihr Wirkungsbereich hebt sich jedoch deutlich von den übrigen ab. Zum einen kann sie keine Gruppierung als solche ablehnen oder unterstützen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich rechts oder links, Laizisten oder Religiöse, Nationalisten oder Liberale, ja sogar Staatsbürokratie und Armee nicht voneinander. Keine Gruppe vertritt gegenüber der EU eine einheitliche Haltung. Der EU-Beitrittsprozess hat praktisch jede Gruppe erschüttert. Das führte so weit, dass alle anderen Gruppierungstendenzen zum Stillstand gekommen sind und die eigentliche Dynamik zwischen den Positionen pro und contra EU entsteht. Deshalb ist es sehr wahrscheinlich, dass selbst diejenigen unter uns, die aus heutiger Sicht im eigenen Interesse „Ja“ zur EU sagen, morgen, wenn ihre eigenen Vorteile auf dem Spiel stehen, „Nein“ zur EU sagen werden. Dann werden die wahren „Spiegel“ zu sprechen beginnen, und wir müssen uns der Realität stellen: Wie viel Veränderung wollen wir überhaupt?

An erster Stelle der großen Bedrohungen, die der Nationale Sicherheitsrat einmal mehr verkündet, stehen separatistische und reaktionäre Aktivitäten. Im Klartext bedeuten Separatismus die „kurdische Frage“ und reaktionäre Aktivitäten „islamischer Fundamentalismus“. Das eigentliche Thema dieses Artikels sind zwar die reaktionäre Bedrohung und der virulente Islamismus. Dabei scheint die kurdische Frage nicht in den Kontext zu passen. Doch ich halte es für wichtig, festzustellen: Zum Glück sind sowohl Türken als auch Kurden Muslime. Wenn es zwischen diesen beiden Völkern bis heute nicht zu blutigen Zwischenfällen gekommen ist und auch nicht kommen wird, dann liegt das vor allem daran, dass beide Völker muslimisch sind.

Dazu noch folgender Punkt: Religiöse Bewegungen werden wie der Separatismus im weitesten Sinne als eine Bedrohung empfunden. Man muss aber auch sagen, dass die gleichen religiösen Bewegungen auch der stärkste Zement sind, der das Land gegen Separatismus zusammenhält. Oder anders gesagt: Die eine Bedrohung neutralisiert bzw. beseitigt die andere. Der islamische Charakter der Türkei bietet diesen Vorteil nicht nur nach innen, sondern auch nach außen. Hier liegt sogar sein größter Wert. Wir erleben dies derzeit alle: Das Hauptargument, das gegen den Beitritt der Türkei zur EU vorgebracht wird, ist ihr islamischer Charakter. Dieser ist aber gleichzeitig auch der stärkste Trumpf der Befürworter. Ministerpräsident Tayyip Erdogan weiß sehr wohl um diesen Trumpf. Achten Sie einmal darauf, welche Botschaften er nach Europa sendet: Er spielt den islamischen Charakter der Türkei nicht herunter, sondern er betont ihn eher noch und ist damit sehr erfolgreich. Der Grund, warum die Türkei heute in der internationalen Politik so gefragt ist, liegt vor allem an ihrem islamischen Charakter.

Aber, wie es so kommt, ist der Islam trotz seiner Vorteile nach innen und außen auch die problematischste Seite der Türkei. Seit Jahren ist der Staatsapparat, der sich selbst als laizistisch bezeichnet, darauf aus, die religiösen Strömungen im Volk unter Kontrolle zu bekommen. Manchmal sorgt er mit Revolutionen für Recht und Ordnung unter den Religiösen, manchmal durch Gesetze oder hartnäckiges Durchgreifen.

Doch all diese Maßnahmen haben nichts gefruchtet. Trotz aller Anstrengungen, die religiöse Erziehung unter die Aufsicht der nationalen Bildungsbürokratie und das religiöse Leben unter die Aufsicht des Amts für religiöse Angelegenheiten zu stellen, liegt heute die Macht in der Türkei in den Händen einer Partei, die es mit ihrem islamischen Auftreten bis nach oben geschafft hat.

Andererseits wird die Angst der Laizisten vor dem Fundamentalismus, den sie mit ihren ganzen Maßnahmen nicht beseitigen konnten, ihnen eines Tages gerade dadurch genommen werden, dass die Muslime an der Macht sind. Wenn ich an Stelle der Laizisten oder sogar des Nationalen Sicherheitsrates wäre, ich wäre dankbar dafür, dass die AKP an der Regierung ist. Je mehr sich die Muslime mit Politik beschäftigen, desto mehr verblassen ihre politischen Drohungen. Je länger die Muslime an der Macht sind, desto mehr verlieren sie ihren Machthunger und auch ihren Wunsch, die Scharia einzuführen. Es ist davon auszugehen, dass die Muslime all das erreichen werden, was die Laizisten bis heute nicht erreicht haben, einschließlich des Laizismus. Die christlichen Kreise Europas, die nicht wollen, dass die Türkei in die EU kommt, sollten sich das noch einmal überlegen.

Es ist viel besser, wenn unterschiedliche Religionen miteinander leben statt nebeneinander. Denn statt sich gegenseitig zu vernichten, befruchten sie einander, wenn ihnen ihre Besonderheiten besser bewusst werden. Wenn jemanden wie mich fünf Gebetsrufe am Tag wenigstens fünf Mal daran erinnern, dass er Christ ist, dann ist dies aus christlicher Sicht kein Verlust, sondern eher ein Gewinn. So unterstützen und bereichern sich die Unterschiede wechselseitig. Ich kann mit Recht sagen, dass der Islam eine starke Garantie für mein Christentum ist.

Aus dem Türkischen von Eric Czotscher