Fliehen vor dem Zeitreichtum

„So, und jetzt habe ich Zeit“ (I): Manche kleinen Wörter zeigen ein großes Herumscheitern gnadenlos an: „eigentlich“ ist so eines. „Eigentlich“ keine Zeit zu haben zählt zu den anstrengendsten Simulationen unseres Alltags. Aber Aussteigen ist schwierig und riskant. Denn dann fängt Angst an

■ Zeitmangel: Wer kennt ihn nicht? Er ist Effekt von und Voraussetzung für eine Dynamik, die alle sozialen Verhältnisse unter das Vorzeichen der Wertschöpfung stellt. Grund genug für eine Artikelreihe. Denn: Wann hört das auf und was passiert dann? Was passiert mir, wenn ich mir keine Zeit nehme, sondern sie habe?

von TILMAN RAMMSTEDT

Ich will nichts Falsches behaupten: Gerade habe ich eigentlich viel Zeit. Mein Wecker und Terminkalender führen in diesen Wochen ein geruhsames Leben, und wenn ich mich mit Freunden treffe, die Arzt sind oder Vater, habe ich ein angemessen schlechtes Gewissen. Es hat unbestreitbare Vorteile, viel Zeit zu haben, bringt jedoch auch Probleme mit sich, vor allem, wenn man nach ihnen sucht. Und wenn man viel Zeit hat, sucht man ja mitunter gerne nach Problemen, womit das erste schon genannt ist.

Mit einem Überfluss an Zeit gerät man zum Beispiel leicht in die Gefahr zu prassen, man wirft verschwenderisch mit Stunden um sich, die man dann später dringend zu benötigen glaubt, der Schlafrhythmus gerät völlig durcheinander, und vor allem braucht man für alles viel zu lange. Je mehr Zeit ich zur Verfügung habe, umso hilfloser werde ich im Umgang mit ihr. Die Zeit und ich stehen uns unschlüssig gegenüber, jeder macht sein Ding, was für die Zeit heißt: sie vergeht, und für mich: ich sehe ihr dabei zu und staune.

Wenn man eigentlich viel Zeit hat, bläht sich nämlich alles auf, bis man es kaum mehr erkennt. Der Gang zur Post, den man sonst auf dem Weg erledigt, wird zum Ausflug, den es gründlich vorzubereiten gilt; beim Einkauf im Supermarkt ist schon die Wahl der Apfelsorte eine Grundsatzentscheidung, und an einer sachlichen SMS formuliert man so lange herum wie früher an einem Liebesbrief. Die Maßstäbe stimmen einfach nicht mehr.

Und richtig problematisch ist es, inmitten dieses Zeitreichtums zu arbeiten, denn Arbeit und Zeit passen nicht zusammen, sie sind natürliche Feinde, stehen einander im Weg, und so ist es ungewohnt, auf einmal festzustellen, dass man manchmal auch Zeit hat zu arbeiten.

Für diesen Artikel zum Beispiel hatte ich Zeit, fünf fast ganze Tage, an denen es wenig gab, was gerade noch als Termin bezeichnet werden könnte, keine anderen dringenden Deadlines, kein Umzug, keine Freunde in akuten Nöten. Und weil mir das mit den ungefüllten Tagen ganz und gar nicht gelang, sosehr ich mich in anderen Zeiten auch darauf gefreut hatte, nahm ich den Auftrag an. Es ist schließlich auch ungehörig, viel Zeit zu haben, und wenn man auf die häufig gestellte Frage, was man denn gerade so mache, ehrlich antwortet, wird man im besten Fall skeptisch, im schlechtesten besorgt angesehen. Fünf Tage lang zumindest wollte ich vor diesen Blicken pausieren.

Und ich hoffte auch, dass diese fünf Tage die Maßstäbe endlich zurechtstutzen würden, alles Aufgeblähte sollte wieder zusammenschrumpfen, weil es nun mit einer bekannten Größe verglichen werden konnte. Denn fünf Tage sind natürlich zu viel für einen Artikel. Aus den Variablen geforderte Zeichenzahl, vorhandene Zeit, Wichtigkeit des auftraggebenden Organs, Höhe des Honorars, persönliche Form und Knackigkeit des Themas berechnet man mehr oder minder genau die Anzahl der Stunden, die man für einen Beitrag aufwänden muss und will, und weil das Ergebnis auch in diesem Fall deutlich unter fünf Tagen blieb, war der Plan, den Artikel schnell zu schreiben und die restliche Zeit in der Herbstsonne zu sitzen und vergnügt mit den Beinen zu wippen oder was man noch so macht, wenn man guten Gewissens Zeit hat, weil man endlich einmal schneller war als sie, einmal lange vor ihr im Ziel ist und sie bereits geduscht und mit einem Erfrischungsgetränk in der Hand begrüßen kann. Ich wollte mir die Differenz zwischen fünf Tagen und den errechneten Stunden verdienen, mit so einem genau bestimmten Betrag wäre bestimmt besser umzugehen. Es war ein guter Plan, und es ist sehr schade, dass er nicht aufging.

Auch wenn ich das hätte wissen können, denn ich brauche für alles immer genauso lange, wie ich Zeit dafür habe, manchmal auch etwas länger. Wenn mir also fünf Tage für einen Artikel gegeben werden, kann ich davon ausgehen, auch fünf Tage mit ihm beschäftigt zu sein. Und um das zu garantieren, scheitere ich stets so lange herum, bis tatsächlich nur noch die paar Stunden bleiben, die ich zuvor berechnet hatte. Bis dahin gehe ich jedem Zweifel nach, jedes Stocken im Schreibfluss wird zum Anlass, meinen gesamten Lebensentwurf zu überdenken, sodass ich schnell die Flucht vom Schreibtisch ergreifen muss, um mich von diesem Überdenken abzulenken, und es folgt ein im Zeitraffer bestimmt lustig anzusehender Tanz zwischen Schreibtisch und Flucht.

Der bessere Plan wäre also gewesen, das Scheitern einfach ausfallen zu lassen und mich erst dann an die Arbeit zu machen, wenn ich mir Zweifel beim besten Willen nicht mehr leisten kann. Doch das hieße zu resignieren, und das verbietet man sich meist. Ich will die Hoffnung noch nicht aufgeben. Ich will einmal selbst beschließen, wann etwas fertig ist, denn vor dieser Entscheidung bewahrt mich sonst zuverlässig der Abgabetermin, und alle Unzulänglichkeiten des Textes kann man dann einfach auf die mangelnde Zeit schieben. Vieles ist einfacher, wenn man keine Zeit hat, und das beschränkt sich nicht nur auf die Arbeit. Wenn man Zeit hat, muss man entscheiden, was man mit ihr anstellt. Wenn man Zeit hat, greifen eine ganze Reihe von Ausreden, an die man sich längst gewöhnt hat, nicht mehr. Wenn man Zeit hat, ist man plötzlich mit all dem konfrontiert, was man sich in volleren Tagen für genau diesen Zustand vorgenommen oder ersehnt hat – sich wieder bei alten Freunden melden, zum Zahnarzt gehen, ans Meer fahren, Fenster putzen, Sport treiben, die verpassten Filme zumindest auf DVD anschauen, das Rauchen aufgeben, den ganzen Tag in Cafés sitzen, Blut spenden, Tanzen gehen, das Fahrrad reparieren, Japanisch lernen, Kinder kriegen – und weil das, auch wenn man reichlich Zeit hat, natürlich ein bisschen zu viel ist, muss man aussortieren, Prioritären setzen, sich informieren, in sich hineinhorchen und abwägen, und das klingt erstens nicht danach, wirklich Zeit zu haben, und zweitens recht mühsam.

Deshalb ist es nicht nur schick, sondern auch praktisch, immer beschäftigt zu sein. Man kann viel mehr darüber reden, was man alles machen will, als es wirklich zu tun. Man kann sehnsüchtig seufzen und guten Gewissens jammern. Man hat auch wenig Verantwortung, weil viel beschäftigt zu sein schon an sich einen Wert darstellt, da fragt niemand kritisch nach, womit man eigentlich beschäftigt ist. Für etwas keine Zeit zu haben, wird viel leichter akzeptiert, als auf etwas keine Lust zu haben, und statt sich Vorwürfe anzuhören, bekommt man dann mit etwas Glück sogar Mitleid. Es ist zwar seltsam, dass man sich nur Zeit nehmen kann, wenn man welche hat, aber hinterfragt wird das selten, und am wenigsten von einem selbst.

Und vielleicht liegt es auch daran, dass, wenn ich, wie gerade, nicht behaupten kann, keine Zeit zu haben, ich für alles so lange brauche, dass sich alles aufbläht, weil ich auf diese Weise das Beschäftigtsein zumindest simulieren kann. Die Simulation ist einfach zu erkennen, sie entlarvt sich an einem Wort, das ohnehin selten Gutes verspricht, am „eigentlich“. In der Simulation des Beschäftigtseins verzettelt man sich ständig in irgendetwas, obwohl man eigentlich andere Dinge tun sollte. In der Simulation hat man deshalb kontinuierlich eigentlich keine Zeit, und man muss genau darauf Acht geben, immer noch etwas nicht erledigt zu haben, auf allen To-do-Listen noch nicht durchgestrichene Posten als Reserve zu behalten, die als Grund herhalten können, sich bloß nicht mit den Entscheidungen einer plötzlich vorhandenen Zeit auseinander setzen zu müssen. Das lässt sich bei Bedarf sehr lange durchhalten, weil sich mit dem „eigentlich“ dann auch doch immer Zeit nehmen lässt, wenn einem gerade danach ist. Dass es aber eigentlich gerade ganz schlecht passe, muss man dann aber auf jeden Fall sagen, denn das hält die Möglichkeit offen, die genommene Zeit auch wieder zurückgeben zu können. Man darf dann früh nach Hause gehen, den Japanisch-Kurs abbrechen und das Fahrrad halb repariert im Hof stehen lassen. Man darf das sogar bedauern.

Natürlich ist die Simulation, diese Grundhaltung, ständig eigentlich keine Zeit zu haben, ein durch und durch unzumutbarer Zustand, für einen selbst und auch für alle um einen herum, die das Gerede von irgendwelchen Eigentlichs nicht mehr hören wollen. Auf nichts lässt man sich wirklich ein, für nichts nimmt man sich wirklich Zeit, beim Verzetteln denkt man an den Schreibtisch und am Schreibtisch ans Verzetteln, sodass man es schafft, weder zu arbeiten noch nicht zu arbeiten. Das klingt subversiv oder nach irgendeiner Zen-Lehre, ist aber im Grunde nur dumm, denn die Simulation ist dafür, dass sie komplett unproduktiv ist, erstaunlich anstrengend, viel anstrengender als das, was sie simuliert.

Und deshalb muss endlich Schluss damit sein. Ich habe Zeit, damit muss ich mich abfinden, und zwar genau ab jetzt.