Mann mit vielen Eigenschaften

Dennis Milholland ist Schriftsteller und polyglotter Übersetzer. Für Neonazis ist er homosexuell, HIV-infiziert, behindert und Jude – ein perfektes Opfer. Heute treffen sich nach einem Überfall beide vor Gericht: der Angeklagte und der Neonazi

Homosexuell, HIV-infiziert, sehbehindert und jüdisch – Zyniker mögen lachen: Ist Milhollandnicht das perfekte Opfer?

VON PHILIPP GESSLER

Neonazis hassen Juden, sie verachten Schwule, angewidert sind sie von HIV-Infizierten – und Behinderte wollen sie am liebsten einem „Euthanasie“-Programm zuführen. Insofern war es ein goldener Griff, den der Potsdamer Oliver K. in der Nacht zum 28. Mai 2005 tat. Im Potsdamer Hauptbahnhof traf der damals 24-Jährige, ohne es zunächst zu wissen, auf das perfekte Opfer: Dennis Milholland, ein schwuler, HIV-infizierter, halb blinder Jude. Oliver K. schlug Milholland zusammen, diese – sagen wir’s im Neonazi-Slang – „schwule, aidskranke, blinde Judensau“. Und heute steht er vor Gericht. Nein, nicht Oliver K. Dennis Milholland.

Wie konnte es dazu kommen? Milholland und seine zwei Begleiter schildern das Geschehen übereinstimmend so: Sie waren am Abend des 27. Mai 2005 von Berlin nach Potsdam gefahren, um eine Kabarettveranstaltung zu besuchen. Nach der Vorstellung kauften sie sich je einen Döner und bestiegen eine Tram Richtung Hauptbahnhof. In der Straßenbahn wurde Oliver K. auf sie aufmerksam. Er beleidigte sie mit Worten wie „Türkensäue“ und „Knoblauchfresser“. Auch wenn Oliver K. nicht eindeutig als Neonazi erkennbar war, wussten die drei Berliner Freunde recht bald, woher den Wind wehte, als Oliver K. auch „Sieg Heil!“ rief.

Die drei Freunde versuchten, den Neonazi zu ignorieren. Sie gingen zum S-Bahn-Gleis Richtung Berlin – Oliver K. aber folgte ihnen. Er rempelte Milholland und einen der Freunde an. Dabei beschimpfte er sie als „Nigger“ und „Ich fick euch durch, bis Hirn spritzt“. Die Berliner versuchten weiter, die Pöbeleien des Potsdamers zu überhören. Als sie aber in die S-Bahn Richtung Berlin stiegen, fing Oliver K. an, einen der Freunde zu schlagen. Milholland stieß Oliver K. weg. Der Neonazi nahm sich nun Milholland vor, schlug und trat ihn brutal.

Im Laufe der Prügelei biss Milholland Oliver K. in den Zeigefinger der linken Hand. Der Finger fing an zu bluten. Oliver K. fragte Milholland, ob er blind sei. Milholland antwortete: „Ja, und ich habe Aids und du jetzt auch.“ Entsetzt stürmte Oliver K. aus der S-Bahn und kam mit drei Bundespolizisten zurück. Alle vier Beteiligten wurden verhört, Oliver K. wurde mit Blaulicht in ein Krankenhaus gebracht, die drei Berliner konnten nach Hause zurückkehren.

Oliver K. wurde nach Informationen von Milholland neun Monate lang mit retroviralen Medikamenten behandelt – obwohl eine Behandlung von wenigen Wochen völlig ausgereicht hätte. Grundsätzlich ist eine Übertragung über einen Biss extrem selten: Milholland zufolge, der als Experte gelten mag, weil er über Jahre als Aids-Aktivist gearbeitet hat, sind unter den etwa 80 Millionen HIV-Infektionen weltweit seit Ausbruch der Seuche nur drei Fälle bekannt, bei denen die Immunschwächekrankheit über einen Biss übertragen wurde – und das auch nur dann, wenn der Gebissene infiziert war und der Beißende zugleich eine Wunde im Mund hatte. Also eine ganz andere Konstellation als die des Mai-Abends in Potsdam.

Oliver K. wurde im Juli 2006 wegen Körperverletzung und Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Aber auch gegen Milholland wurde ein Strafverfahren eröffnet. Er ist angeklagt, „eine andere Person mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben“. Heute muss er sich im Amtsgericht Potsdam wegen „gefährlicher Körperverletzung“ verantworten. Ihm drohen bei einer Verurteilung bis zu zwei Jahren Haft. Sollte das Verfahren irgendwann womöglich beim Landgericht landen, könnten es Milholland zufolge sogar zehn Jahre werden.

Milholland weiß nicht recht, ob er über die ganze Angelegenheit eher lachen oder weinen soll – und das, obwohl er einen feinen Humor hat, der sich schnell zeigt, wenn man ihn in seiner abgedunkelten Hinterhauswohnung in Berlin besucht. Immer wieder unterbricht der Autor und Übersetzer dabei seinen Bericht, um durch eine kleine Recherche an seinem Computer das Erzählte zu belegen oder zu illustrieren. Der Rechner hat einen immensen Bildschirm, der eine große Schriftgröße ermöglicht: Milholland ist auf dem linken Auge zu 100 Prozent blind, die Sehkraft des rechten Auges beträgt gerade mal 30 Prozent. Viele Texte, die er für seine Arbeit braucht, lässt er sich über ein Computerprogramm in Deutsch, Englisch oder Französisch vorlesen.

Homosexuell, HIV-infiziert, sehbehindert und jüdisch – „fehlt nur noch schwarz“, sagt Milholland sarkastisch – und tatsächlich war er, geboren 1949 in Kansas City, Missouri, ein paar Jahre in einer Schule für „Coloured“, Farbige. Zyniker mögen darüber lachen: Ist er nicht das perfekte Opfer? „Absolut“, sagt Milholland, aber so hat er sich nie gesehen: „Ich bin ein sturer Bock, aber kein Opfer.“ Die Neonazis, die seinen Fall in internen Internet-Zirkeln diskutierten, dichteten ihm gleichwohl einen Rollstuhl dazu. Seine Kombination an Merkmalen macht ein Leben in Deutschland, um es vorsichtig zu sagen, in der Regel eher schwer. Und doch sind es gerade diese Merkmale, die Milhollands Geschichte und Stärke ausmachen:

Milholland wurde als Sohn eines irischen Physikers und einer französisch-algerischen Ausdruckstänzerin, beides Juden, geboren. Die beiden hatten sich Anfang der 20er-Jahre in Berlin kennengelernt und schon nach zwei Wochen geheiratet. Vier Kinder hatte das Paar, Dennis war der Jüngste. Als in Deutschland 1938 die Synagogen brannten, flohen die Milhollands über Portugal in die USA – der älteste Bruder Fred, der damals schon in Paris studierte, wurde bald nach der deutschen Invasion in Frankreich verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

In den USA arbeitete Dennis’ Vater am geheimen „Manhattan“-Projekt der US-Regierung zur Entwicklung einer Atombombe. Dass zwei dieser Bomben in Japan eingesetzt wurden und tausende Menschen töteten, habe sich sein Vater nie verziehen, sagt Milholland. Als er fünf Jahre alt war, floh die Familie illegal über Kanada nach Frankreich: Die McCarthy-Ära war für die Milhollands unerträglich, Dennis’ Mutter war Kommunistin. In Paris hatte Milholland als junger Mann sein Coming-out. Seine Mutter war entsetzt. Ein deutschstämmiger Rabbiner, zu dem sie mit ihren Sorgen ging, wies sie aber zurecht: „Wir haben gerade den Holocaust überlebt – haben Sie keine anderen Sorgen?“

Dennis Milholland lebte kurz mit einem Freund in New York, ehe er anfing, in Deutschland Linguistik und Übersetzung zu studieren. Den Umbruch 1968 erlebte er in Berlin intensiv, viel Zeit verbrachte er damals in Leipzig. Nicht nur wegen seines Freundes, der ihn über Jahre für die Stasi abschöpfte, wie er später erfuhr, sondern auch weil er hier, anders als im Westen, bei der Leipziger Messe Dolmetscher-Praxis erwerben konnte.

Anfang 1972 wurde er gezwungen, seinen US-Wehrdienst abzuleisten – und kam vor allem wegen seiner Dolmetscher-Fähigkeiten nach Vietnam. Dort wurde er angeschossen, dann von den Vietcong gefangen genommen, aber als Inhaber auch der französischen Staatsbürgerschaft wieder entlassen. Es folgten Jahre als Übersetzer in West-Berlin, ehe er in der US-Botschaft von Ost-Berlin als Dolmetscher mit Diplomatenstatus anfangen konnte. Eine Liebschaft mit einem sowjetischen Militärattaché flog auf, er wurde gefeuert – seine verwanzte Wohnung in West-Berlin lässt ihn bis heute an der grundsätzlichen Integrität von Staatsmacht zweifeln.

Nach einer kurzen Zeit in Wiesbaden wanderte Milholland nach Irland aus, der Heimat seines Vaters. Hier wurde seine HIV-Infektion entdeckt – er bekam von Tbc über die CMV-Blindheit bis zu Knochenmark-Krebs so ungefähr alles, was mit dem „Vollbild Aids“ einhergehen kann. Am Ende wog er nur noch 47 Kilo. Einmal musste er reanimiert werden. „Am 23. März 1995 bin ich gestorben“, sagt er. Dennoch überlebte er acht Jahre in einem Dubliner Hospiz – „Ich war der Erste und Einzige, dem in dem Sterbehaus eine Telefonleitung gelegt wurde“. Milholland musste in den Jahren 1996/97 etwa 80 Pillen pro Tag nehmen. Er arbeitete für ein irisches Schwulenmagazin und die „Aids-Alliance“ in Dublin, sobald er wieder stark genug war. Schließlich kehrte er 2001 nach Berlin zurück, nicht zuletzt, weil er sich hier eine bessere medizinische Versorgung erwartete.

Es ist diese Familien- und Lebensgeschichte, die Milholland die Furcht vor Obrigkeiten, Feinden, ja dem Tod genommen hat: „Ich bin schon gestorben, ich habe keine Angst davor.“ Auch angesichts der vielen gleichaltrigen Bekannten und Freunde, die an Aids gestorben sind, erlebt er die vergangenen Jahre als „geschenkte Zeit: Der Tod ist schon vorbei“. Wütend aber macht ihn der anstehende Prozess, weil er auch auf Unwissenheit über Aids beruht, als wolle sich die Gesellschaft immer noch nicht mit dieser Krankheit ernsthaft auseinander setzen. Milholland bekommt einen Hustenanfall vor Empörung – „hoffentlich krepiere ich nicht vor der Verhandlung“, sagt er, und so richtig witzig ist das nicht gemeint. Der Prozess heute, meint er zum Schluss, „das wird eine Kabarettveranstaltung“. Sein heiseres Lachen erstirbt schnell.