Alle Wege führen nach Straßburg

Vorsitzender einer verbotenen russischen NGO will vor europäischem Gericht klagen

MOSKAU taz ■ Vor dem Gerichtssaal herrscht Gedränge. Wie fast immer, wenn Prozesse mit politischem Hintergrund in Russland anstehen. Je größer das Interesse der – wenn auch marginalen – kritischen Öffentlichkeit, desto kleiner der Verhandlungssaal und umso größer der Kreis der von der Staatsanwaltschaft geladenen loyalen Gäste. Auch die Revisionsverhandlung gegen die Russisch-Tschetschenische Freundschaftsgesellschaft (RTFG) vor dem Obersten Gericht in Moskau diese Woche war keine Ausnahme von dieser Regel. Andrei Mironow, früherer Gulag-Häftling, fühlte sich an „sowjetische Dissidentenprozesse der 70er-Jahre“ erinnert.

Im Oktober 2006 war die RTFG von einem Gericht in Nischni Nowgorod verboten worden, das der Nichtregierungsorganisation (NGO) mehrere Gesetzesverstöße zur Last legte. Verurteilt wurde die Organisation wegen der vermeintlichen Anstiftung ihres Vorsitzenden, Stanislaw Dimitrijewski, zu Hass mit religiösem und rassistischem Hintergrund. Ursprünglich hatte die Staatsanwaltschaft die RTFG des Terrorismus anklagen wollen, war sich dann wohl aber der Lächerlichkeit der Anschuldigung bewusst geworden.

In der Hauspostille Prawosaschtschita (Menschenrecht) hatte die NGO vor drei Jahren einen Friedensappell des inzwischen vom russischen Geheimdienst ermordeten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow veröffentlicht. Ein nach Lesart der russischen Justiz grobes Vergehen, denn der legitime Präsident Tschetscheniens war mit Beginn des russischen Kaukasusfeldzuges vom Kreml zum Terroristen gestempelt worden. 2006 verurteilte ein Gericht den RTFG-Vorsitzenden und Herausgeber von Prawosaschtschita Dimitrijewski wegen „extremistischer“ Tätigkeit zu zwei Jahren Haft auf Bewährung.

Das Organisationsverbot im Herbst war der zweite Streich, der sich auf ein Gesetz von 2005 stützt, das das Wirken zivilgesellschaftlicher Organisationen neuen Regeln unterwirft. Die Arbeit kritischer Bürgerbewegungen soll erschwert oder unterbunden werden. Vor allem kremlkritische NGOs sowie deren ausländische Partner nimmt das Gesetz ins Visier.

Den Casus Dimitrijewski/RTFG hatten die Gesetzgeber bei der Abfassung wohl schon vor Augen. Der Passus, auf den die Gerichte sich jetzt berufen, sieht vor, dass Vorbestrafte weder Ämter in einer NGO bekleiden noch deren Mitglieder sein dürfen. Die Freundschaftsgesellschaft hatte sich nach dem Urteil gegen den Vorsitzenden weder von ihm getrennt noch distanziert.

Auch für das Oberste Gericht (OG) war der Fall damit eindeutig. Beobachter vermuten, dass dieser Paragraf vor allem dem Exeigentümer des Yukos-Konzerns Michail Chodorkowski galt. Dessen politische Ambitionen fürchtete der Kreml und ließ den Oligarchen 2005 zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilen.

Die Entscheidung des OG unterstreicht, dass das NGO-Gesetz vor allem unbotmäßige Kritiker maßregeln soll. Stanislaw Dimitrijewski wird vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ziehen. Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert, wurden nach Ansicht des Aktivisten verletzt. Auf Urteile des EGMR reagiert der Kreml empfindlich. Immer häufiger wird Moskau des Rechtsbruchs überführt und zu hohen Entschädigungszahlungen verdonnert. „Der Kreml hat vor Straßburgs Rechtsprechung richtig Angst“, meint Jelena Lipzer, die als Anwältin schon Dutzende Fälle an den EGMR weiterleitete. Auf Dauer könne Moskau Straßburg nicht ignorieren. Mit dem Austritt aus dem Europarat würde der Kreml signalisieren, dass Russland nicht zu Europa gehöre. KLAUS-HELGE DONATH