: Rundumschlag in Metropolen
Hatz der Körper zwischen Postengeschacher und Schönheitswahn. Im Theaterlabor untersucht der Bielefelder Choreograph Gregor Zöllig mit dem Stück „Stadt.Stolper.Steine“ universelle Bewegungsformen, die eine moderne Großstadt vorgibt
VON HEIKO OSTENDORF
Postengeschacher wo man hinschaut. Ob in der CSU-Parteizentrale oder bei Telekom und Toll Collect. Einer zieht dem Chef den Stuhl weg und schon hat ein anderer – elegant intrigant – sein karrieresüchtiges Gesäß auf dem vakant zu werden drohenden Platz geparkt. Irgendwo findet sich immer eine stürzlerische Pauli und ein aufrückungswilliger Horst/ Erwin/ Günther. Dankt dieses real existierenden Theaters steigen dem geneigten Zuschauer bei Gregor Zölligs aktueller Produktion zeitnahe Assoziationen en masse vor dem geistigen Auge auf.
Der Leiter des Bielefelder Tanztheaters liefert in „Stadt.Stolper.Steine“ im Tor 6 einen Rundumschlag durch die gesellschaftlichen Tiefen moralischer Art. Vier Tänzer schlagen sich im eleganten schwarzen Zwirn gehüllt um den besagten Stuhl, der unternehmerische oder politische Macht bedeutet. Oder ist da kein Unterschied? Sie springen sich an, nahezu waagerecht sausen sie auf die Brust des gegnerischen Managers zu. Während dessen schnappt ein anderer zu, bis auch er vertrieben wird. Die hölzerne Sitzgelegenheit bleibt minutenlang ihr einziges Utensil. Denn es geht bei Posten schließlich nur um die Position, nicht um den Inhalt der Aufgabe. So würde es ein Zyniker anmerken und Recht haben.
Das Stück, das Zöllig bereits in seiner Osnabrücker Zeit dort auf die Bühne brachte und jetzt runderneuert mit modifiziertem Ensemble den Bielefeldern vorsetzt, hat allerdings mehr zu bieten. So viel, dass man gedanklich beweglich bleiben muss, um den Betrachtungen des Choreografen quer durch den Dschungel der Gesellschaftskritik auf den Fersen zu bleiben. Nicht die schlechteste Aufgabe, die ein Tanzstück seinen Zuschauern aufbürden kann. So wird man Zeuge, wie ein Seminarleiter (Dirk Kazmierczak) die ideale Gefühlsstimmung für ein Verkaufsgespräch erläutert: Im beigen Anzug demonstriert er verkaufsfördernde Körperhaltung, die das Ensemble in der nächsten Szene prompt umsetzt. Dazu Worthülsen, die bereits jedem ziellos durch ein Einkaufszentrum Schlendernden schon entgegen gehaucht oder gepresst wurden: „Sie kommen alleine zurecht?“ – Ausgerechnet diese hinterfotzige Frage, die keine Antwort abwartet, sondern nur das schlechte Gewissen des „Ich-will-nur-gucken“-Pseudo-Käufers fördern will! Dazu bewegen sich die Tänzer im Gleichklang mit subtil-stupidem Grinsen auf den Gesichtern, dessen Geheimnis wohl nur Verkaufsseminar-Geschulte wirklich zu ergründen wissen. Der heftige Szenenapplaus zeigt, dass die Zuschauer dieses Geschäftsgebaren durchaus aus eigener Erfahrung kennen und die satirische Überhöhung zu schätzen wissen.
Im Themenreigen von „Stadt.Stolper.Steine“ glückt der Übergang vom aufdringlichen Warenangebot zum Schönheitswahn stufenlos, wenn der Verkäufer (Gianni Cuccaro) seiner Kundin (Stéphanie Bouillaud) so lange Schaumstoffrohre zur äußeren Brustvergrößerung aufquatscht, bis das Top zu platzen scheint. Später ist es Roberto Morales, der von seinem Schönheitsideal schwärmt, hätte er doch gerne lange Beine, blonde glatte Haare und einen festen runden Po. Ein schwer erreichbares Ziel für den eher kleingewachsenen Costa-Ricaner.
Der die Bühne bedeckende rot-gemusterte Teppich wird am Ende der Zerstörung preisgegeben, wenn die Bewegungen der jetzt im Abendkleid agierenden Tänzerinnen immer manischer werden und der Bodenbelag von unten aufgewühlt wird. Hier verabschiedet sich eine Gesellschaft mit all ihren oberflächlichen Abszessen und Auswüchsen, die Zöllig mit seinen Tänzern mitreißend humorvoll auf die Bühne übertragen hat, wie nicht zuletzt der heftige Premieren-Applaus beweist. Hier gab es glücklicherweise keine Materialermüdung des menschlichen Körpers.
19:30 Uhr, Theaterlabor im Tor 6Bielefeld, Infos: 0521-287856